Heute Morgen nach dem Aufwachen meldete er sich wieder. „Na hast du mal wieder deinen Samstag vertrödelt? So wird das nie was mit dir!“ Das ist kurz nach dem Aufwachen genau das was ich brauche, um meinen Tag gut zu beginnen. Einen der mir im Schädel hockt und mir permanent erzählt, was ich alles falsch mache. Was ich sollte, müsste. Mehr Schreiben, mehr Sport, mit dem Rauchen aufhören, früher zu Bett gehen, nicht so lange schlafen, meine Aufgaben pünktlicher, schneller, besser erledigen. Die Steuererklärung nicht immer ein Jahr zu spät abgeben, sparen, schlanker werden und überhaupt soll ich ein viel netterer, besserer Mensch werden.
Das nervt. Das macht mich wütend. Das will ich nicht. Ich weiß selber, dass Rauchen ungesund ist. Ich weiß selber, dass ich nur dann etwas zum Abschluss bringe, wenn ich damit überhaupt erst einmal anfange und mir dann die Zeit nehme, daran kontinuierlich zu arbeiten. Mache ich alles, nur eben nicht so, wie es diese Stimme in mir fordert. Wie bitte soll ich diesem Motzkopf gegenüber netter werden, wenn er mich gleich nach dem Aufwachen derart nervt. Der soll abhauen, sein Spiegelbild anmeckern, seine Weisheiten dem Kuckuck sagen. Blöd nur, dass es ja mein Meckerer ist, der mir da heiße Luft ins Hirn bläst. Es ist eben kein Außenstehender der mich mit seinen Nörgeleien, seinem Jammern zur Weißglut bringt. Das wäre ja aushaltbar, einfach weil ich gelernt habe, mit diesen Menschen meinen Umgang zu finden. Meistens gebe ich diesen Unzufriedenen mehrere Chancen, weil jeder von uns ja auch mal jammern und nörgeln muss. Gehört zu unserem Leben dazu. Also höre ich zu und wenn es mir zu viel wird, frage ich, ob es nicht auch ein schönes, bewegendes Erlebnis in der letzten Zeit gab. Manchmal nehmen sie den Richtungswechsel dankbar an, manchmal reagieren sie sauer und manchmal tun sie so, als hätten sie gehört, was ich sage und nörgeln, jammern nach einem „Ja aber…“ munter weiter. Passiert das Letztere häufiger, ziehe ich für mich die Konsequenz und meide die Person künftig. Ich mag einfach keinen privaten Umgang mehr mit Dementoren, denn das sind diese permanent unzufriedenen Nörgler und Meckerer, Energiesauger. Diese Menschen die permanent wissen, was für andere gut ist, wie andere ihr Leben gestalten sollten, die aber selbst immer nur darauf warten, dass eben jene anderen ihre Bedürfnisse erkennen und ihre Erwartungen erfüllen. Diese Menschen, die sich permanent ungerecht behandelt fühlen von anderen oder von der schlechten Welt und die überhaupt nicht das bekommen, was ihnen ihrer Meinung nach vom Leben zusteht. Darüber kann man sich durchaus trefflich streiten, was einem/einer vom Leben zusteht. Ich für mich habe gelernt, wenn ich etwas vom Leben will, muss ich dafür etwas tun. Will ich Vertrauen, muss ich lernen mir selbst zu vertrauen. Will ich lieben (im Sinne von angenommen werden), muss ich lernen, mich selbst anzunehmen. Will ich ein gutes Leben, muss ich für mich erst einmal definieren, was ein gutes Leben für mich bedeutet und dann kann ich mir überlegen, was mir dabei hilft, diese Ziele zu erreichen. Will ich ein Buch veröffentlichen, kann ich mich entweder hinsetzen und all das tun, was so zum Schreiben dazu gehört (Lesen, Recherchieren, Planen, Schreiben, mein Buch vermarkten) oder ich nehme viel Geld in die Hand und bezahle einen Ghostwriter dafür mein Buch zu schreiben. Menschen, die nicht bereit sind, nach Wegen zu suchen, nach Lösungen die ihnen aus ihrer Unzufriedenheit helfen, diese permanent-Ja-aber-Sager meide ich weitgehend.
Nicht so einfach ist das mit dem inneren Meckerer. Der gehört ja zu mir. Ist Bestandteil meines Selbst. Vor ihm weglaufen würde bedeuten vor mir wegzulaufen. Ihn muss ich aushalten, obwohl ich ihn so gar nicht mag. Obwohl er mich mit seiner permanenten Nörgelei nervt und behindert. Schreibe ich, sitzt er mir im Nacken und murmelt unaufhörlich vor sich hin „langweilig“, „uninteressant“, „du willst schreiben und kennst nicht mal die Komma-Regeln“. Versuche ich mit dem Rauchen aufzuhören, also dem was er sich die ganze Zeit von mir wünscht, sitzt er ebenfalls da und nörgelt „wie unruhig du bist“, „das schaffst du nie, kannst du dir auch gleich eine neue Schachtel kaufen.“ Fakt ist, egal was ich mache, egal wie ich es mache, ihm mache ich es nie recht. Aber ihn kann ich nicht meiden, da er zu mir gehört. Ich kann ihn nicht zur Hölle, zum Teufel oder wohin auch immer jagen und verfluchen, weil ich damit mich verfluche und verdamme.
Was also tun mit diesem alten Mann in mir. (Und falls es jetzt Fragen gibt, warum ‚alter Mann‘, das kann ich nicht beantworten, ich weiß es einfach. Ich kenne mein Personal und er ist eben der alte Mann.) Seine Kommentare ignorieren, das gelingt mir nur manchmal. Er ist so permanent und nervig wie ein Tinnitus. Wer sich den schon mal eingefangen hat, weiß, wie schwer es ist, diesen zu ignorieren. Ihn aus mir herauskratzen, ja, der Impuls ist manchmal da. Inzwischen weiß ich aber, dass mir selbstverletzendes Verhalten nicht gut bekommt und dass Heilungsprozesse ebenfalls viel Zeit benötigen, die ich dann doch lieber in sinnvollere, schönere Vorhaben investiere. Ablenken mit Flucht in ein Buch, einen Film, ein Gespräch, das funktioniert manchmal. Das ist offensichtlich eine Gemeinsamkeit von uns, dass wir uns gern auf gute Art unterhalten (lassen). Nur während ich am nächsten Morgen gern an das Gesehene, Gehörte, Erlebte zurückdenke, ist er schon wieder am Nörgeln. „Hast du mal wieder deine Zeit vertrödelt, hast wieder nichts Sinnvolles zustande gebracht!“ An Tagen an denen ich nicht gut drauf bin, nörgle ich zurück. Jammere vor mich hin „das ist heute nicht mein Tag“. An anderen Tagen, wenn ich mit mir im Reinen bin, mich im Grunde mit mir zutiefst wohlfühle, versuche ich ihn zu verstehen, versuche zu ergründen, warum er so ist, wie er ist.
Mein Meckerer ist ein alter Mann. Ich würde ihn auf 85 schätzen. Aber vielleicht ist er auch viel jünger. Ich kenne ihn jetzt seit ca. 45 Jahren. Damals, als die Erwachsenen in meinem Leben so gnadenlos versagten, war er mir Orientierung und Hilfe. Er wusste immer was tun war, wie ich mich wann verhalten sollte, damit ich die jeweilige Situation überlebte. (Kleiner Hinweis an alle, die sich fragen, ob ich als Kind verrückt war, weil ich schon damals Stimmen hörte: nein, war ich nicht, ich habe nur in einer verrückten Welt gelebt. Die unterschiedlichen Stimmen haben wir alle in uns. Lese-Tipp: „Das innere Team“ von Schulz von Thun) Manchmal waren die Vorschläge des Meckerers, zumindest aus der Rückschau betrachtet, destruktiv und förderten destruktives Verhalten. Zumindest aus der Betrachtung anderer, mir sicherten sie das emotionale und geistige Überleben. So beschloss ich bspw. im Alter von 13 Jahren, dass mich kein anderer Schüler mehr verprügeln würde. Um das zu erreichen, schlug ich fortan zurück und prügelte mich so heftig, dass andere vor mir Angst bekamen und mich in Ruhe ließen. Im Ergebnis war ich in jener Zeit nicht mehr das Opfer meiner Mitschüler*innen, aber ich war verdammt allein. Das tat allerdings nicht halb so weh, wie all die Prügel, die ich als verträumtes, abwesendes Kind vor dieser Entscheidung einstecken musste.
Der Alte hat mir oft geholfen in meinen Kinder- und Jugendjahren. Nur irgendwann war ich erwachsen. Wollte nicht mehr auf ihn hören. Brauchte seine Ratschläge nicht mehr. Wollte meine eigenen Fehler machen. Habe sie gemacht und ihn in die Tiefen meines Seins verbannt und er hat sich, müde und der Kämpfe mit mir überdrüssig, dorthin zurückgezogen. Nur manchmal schickte er mir ein Grummeln, ein Flüstern, das habe ich aber meist ignoriert. Er wachte aus der Ferne über mich, sorgte sich vielleicht auch. Die Tür zu dem Raum in dem er lebte, hielt ich verschlossen. Damit allerdings hielt ich auch mich verschlossen. Es fiel mir schwer, meinen Mitmenschen zu vertrauen, weil ich mir nicht vertraute. Das aber wollte ich. So öffnete ich nach und nach all die Räume in meinem Lebenshaus und lernte meine Bewohner (Stimmen, Gedanken, Emotionen) kennen. Manche mochte ich auf Anhieb, andere weniger. Manche waren alte Bekannte, andere waren mir gänzlich fremd. Sie alle gehören zu mir, sind ich, sind Facetten meines Selbst. Manche sind laut, andere ganz still. Es gibt die Wilden, die Schüchternen, die Superschlauen, die Fleißigen, die Faulen. Es gibt die, die ihre Zeit hatten und jetzt müde lächelnd in der Sauna hocken, nur noch daran interessiert, es sich gut gehen zu lassen. Es gibt die, die erst jetzt den Mut finden, sich die Welt da draußen zu betrachten. Und es gibt die ganz Kleinen, die die nie mit gewachsen sind, die verkümmert und zusammengekrümmt in ihren Betten liegen und nur darauf warten, dass dieses eine Leben doch endlich zu Ende gehen möge.
Heute Morgen, als der Meckerer wieder zur Hochform auflief, bin ich ins Grübeln gekommen und ich glaube, ich habe eine Lösung gefunden. Ich bin ihm zutiefst dankbar für alles, was er früher für mich getan hat. Als Mutter einer inzwischen erwachsenen Tochter kann ich auch verstehen, dass er gekränkt ist, weil er für mich nicht mehr die Rolle spielen kann, in der er früher so wichtig für mich war. Als Mutter weiß ich, wie wichtig es ist, mich aus dem Leben meines erwachsenen Kindes herauszuhalten. Sie ihre eigenen Wege gehen zu lassen, auch wenn es durchaus einmal vorkommt, dass in mir alle Alarmglocken läuten. Es ist ihr Leben, ihr Weg und es sind ihre Fehler aus denen sie lernen kann. Wenn sie um Hilfe oder Rat bittet, bin ich da, ansonsten halte ich einfach meine mütterliche Klappe. Wer mich kennt, weiß wie schwer mir dies fällt. Die Grenzüberschreitungen, die mir auf diesem Weg unterlaufen sind, haben wir miteinander ausgefochten und werden dies hoffentlich weiterhin ausfechten. Ich habe es dem Verständnis und der Zuneigung meines Kindes zu verdanken und unseres respektvollen Umgangs miteinander, dass ich noch immer an ihrem Leben teilhaben darf. Dieser Gedanke half mir heute, den Meckerer mit anderen Augen zu sehen. Er war einmal die wichtigste Stimme in meinem Leben und mein Erwachsenwerden hat ihn zur Nichtigkeit verdammt. Wäre ich nur Mutter gewesen und nicht auch noch Partnerin, Freundin, Therapeutin, Schreibende usw. wäre auch ich zutiefst gekränkt und würde mich, ob der eigenen gefühlten Nutzlosigkeit, immer wieder in das Leben meines Kindes einmischen und würde nichts davon hören wollen, dass sie mich nicht mehr als Orientierungsgeberin braucht. Ich wüsste es besser. Also habe ich den Alten in den Gemeinschaftsraum gebeten. Habe ihm am Kamin eine Ecke eingerichtet, eine Lampe hingestellt. Um seinen Liegesessel habe ich viele bunte Matratzen gruppiert und dort liegen jetzt all die verkümmerten Kinder, die bisher allein in ihren abgedunkelten Räumen lagen.
Ich habe ihnen Tee gekocht und Kekse hingestellt und den Raum verlassen. Vorhin, als ich noch einmal an der Tür lauschte, hörte ich ihn laut aus ‚Die Abenteuer des Tom Sawyer‘ vorlesen.
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