Wie sehr hat sich doch das Verhalten der Menschen geändert. Was früher – auch nicht schön – vielleicht in privaten Räumen von sich gegeben wurde, wird heute als Selbstverständlichkeit angesehen, als das Recht der Rechtschaffenen, der Ordnungsliebenden, der Wächter einer vielleicht mehrheitsgültigen Moral. Alles was gedacht wird, darf heute auch geäußert werden. Achtlos, verachtend, mit dem guten Gefühl des Rechthabens.

Gestern ging ich spazieren. Überholte ein älteres Ehepaar, welches vor einem Haus mit neuer Fassade stehenblieb. An der Fassade Graffiti, auch in meinen Augen nicht mehr als sinnlose Schmiererei. Ärgerlich, lästig, nichtssagend. Hat wohl einer geübt. Aus dem Mund der zarten alten Dame, die dann wohl doch keine Dame ist, zischelten die Worte „Die Schweine, die sollte man erschießen“. Ich war vollkommen konsterniert. Wollte nicht glauben, was ich da gehört hatte und doch hallten die Worte durch meinen Kopf. Das letzte Mal, dass ich aus dem Mund eines Menschen die Worte vernahm, man solle einen anderen erschießen, war in meinem 10. oder 13. Lebensjahr. Mein Vater sah die Nachrichten und die Menschen, die er erschossen sehen wollte, waren die RAF-Terroristen und das „ganze linke Gesindel“. Das fand ich schon als Kind befremdlich, das ein Mensch einem anderen das Leben nehmen wollte, wenn auch, wie ich heute weiß, mangels Macht und Möglichkeiten vorerst nur symbolisch, mit Worten. Wohl hoffend, dass es irgendwo irgend wen geben möge, der diese Worte in die Tat umsetzt. In meiner Empörung fiel mir keine andere Entgegnung ein als „Na dann hoffen Sie mal, dass das nicht ihr Enkel war“.  Aus dem Kopf gegangen ist mir diese Begegnung den ganzen Abend nicht und auflösen konnte ich die Beklommenheit in mir erst, als ich folgenden Text von Hilde Domin las, den ich in mehr als einer Hinsicht sehr aktuell und zeitgemäß finde.

10 erprobte Mittel zur Verhinderung
des Fortschritts und zur Förderung eines
Unmenschen-Nachwuchses
(plus ein Gegenmittel als Zugabe)

1 Haupt-, Herz- und Magenmittel zur Bekömmlichmachung der Mittel: Man lasse sie sich vom jeweiligen Zweck heiligen. (Wie das Volk sagt: Ende gut, alles gut. Wir sind geschickter als die Väter waren.)

2 Mittel zur Förderung von Unmenschlichkeit: Man pachte das Gute, exklusiv. Dadurch wird man ein Teil jener Kraft, die stets das Gute will und doch das Böse schafft.

3 Mittel, sich und andere zu Mitläufern zu erziehen: Man halte sich informiert, wem das Brot zu buttern und wem es zu versalzen ist. Vorsicht, Solidarität kann das schönste Mitläufertum kaputtmachen.

4 Mittel, zum Faschismus zu erziehen: Man wähle die geeignete Kontrastperson (-personengruppe). Man stürze sich auf sie, 100 gegen 1. Es sind keine Menschen wie du und ich, es sind >Schädlinge<, gesprächsunwürdig. Scheiße ist (der zweitbeste) Kitt für faschistische Gruppen.

5 Mittel, zur Lauheit zu erziehen: Man tue alles >ein bißchen<. Man freue sich ein bißchen, schäme sich ein bißchen. Aber man benutze nie den Wahlzettel, auch nicht ein bißchen.

6 Mittel, das letzte bißchen Zivilcourage zu verlernen: überflüssig, gekonnt.

7 Mittel, das eigene Denken abzugewöhnen: Man halte sich nie an Fakten, immer an die Klischees.

8 Mittel zur Einführung des leisen Terrors: Siehe oben, unter 3.

9 Mittel zur Einführung des lauten Terrors: Siehe oben, unter 4.

10 Mittel für Journalisten und Redakteure, den demokratischen Standard senken zu helfen: Half the news that is fit to print.

11 Als Draufgabe, gratis: Mittel, sich selbst die Karriere zu versauen: Sei unbequem, zuallererst zu dir selbst. Schade dir, indem du nicht in Schritt und Tritt gehst, indem du hinsiehst, statt wegzusehen; indem du aufstehst und protestierst, wo alle sitzen bleiben (die unter 2, 3, 5, 6, 7), als hätten sie einen Theaterplatz unter dem Hintern; indem du entscheidest von Fall zu Fall und sogar erst nach Kenntnis des Falles. Damit schadest du dir enorm.

Hier schlägt der Schaden für den Einzelnen in den Nutzen für die Gesellschaft um. Bei den Punkten 1-10 findet das Umgekehrte statt.
Das ist die Dialektik vom Schaden und Nutzen.

Hilde Domin: Von der Natur nicht vorgesehen. Autobiographisches. Fischer Taschenbuch Verlag, 11.-12. Tausend: Dezember 2009, Seite 151-152

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