Rabenzeit.
Eine Erzählung von Anne Galle
rezensiert von Sylvia Tornau
Anne Galles Erzählung beschäftigt sich mit den Auswirkungen des Krieges und der, teilweise noch bis in die 60er Jahre praktizierten, schwarzen Pädagogik auf das Individuum. Es gelingt ihr, anhand der in der Erzählung gewählten Familienstruktur, unterschiedliche Bewältigungsstrukturen verstehbar und für die Leserin nachvollziehbar zu machen.
Beginnend mit der Beerdigung des Vaters begleiten wir Elga, die Protagonistin der Erzählung, auf einer Reise der Befreiung auf unterschiedlichen Ebenen. Befreiung von familiären Zwängen, Befreiung vom Funktionieren müssen, Befreiung vom Korsett der gehorsamen Tochter respektive Ehefrau. Wir begleiten Elga zur Beerdigung des Vaters, begegnen dort der unterkühlten Mutter und den Geschwistern Paul – Elgas vertrautestem Bruder – Erich und Dieter. Alle warten auf den jüngsten Bruder Artur. Doch Artur bricht brieflich mit der Mutter, mit der Familie. Elga versteht den Bruch mit der Mutter. Eine Kriegskindheit lang litten sie und ihre Geschwister unter dem selbstgerechten, jähzornigen Vater und der schweigenden Mutter, die sich scheinbar gottesfürchtig auf die Seite ihres Ehemannes stellte und mit diesem gemeinsam die Kinder erniedrigte.
Über Arturs Bruch mit den Geschwistern, auch mit ihr, Elga, der mütterlichen Schwester seiner Kindertage, gerät Elga aus der Balance. Kindheitserinnerungen überrollen sie ebenso wie die Forderungen des Ehemannes. Allmählich erkennt Elga die Fremdbestimmung der sie sich viele Jahre ergeben hat, in der sie gefangen war. Stück für Stück erobert sie ihr eigenes Leben, erkennt, was für sie wichtig ist, welchen Weg sie gehen möchte.
Mit „Rabenzeit“ gelingt es der Autorin Anne Galle ihre Leserinnen mitzunehmen. Ganz ohne erhobenen Zeigefinger und ohne kräftig schwingende Moralkeule nimmt sie uns mit auf die intensive, wenn auch punktuell durchaus schmerzvolle Reise durch das Leben ihrer Protagonistin. Die Autorin zeichnet ein vom Krieg geprägtes Familienbild. Sie lässt vor uns die damals in Deutschland praktizierte „schwarze Pädagogik“ wiederauferstehen. So wird der Erziehungsstil sichtbar, der in Deutschland seit der wilhelminischen Zeit weit verbreitet war und der später, geprägt von der Verrohung durch Kriegstraumatisierungen in vielen Kinderleben seine Bühne fand. Mittels Einschüchterung, Demütigung, Gewalt und Erniedrigung bis hin zur Folter sollte der Wille der Kinder gebrochen werden, damit sie zu gehorsamen und funktionierenden Menschen heranwuchsen.
In ihrer Erzählung zeigt die Autorin Anne Galle unterschiedliche Wege, mit diesen Traumata im späteren Erwachsenenleben fertig zu werden, sie so in das Leben zu integrieren, dass sie nicht mehr zerstörerisch wirken. Gleichzeitig zeichnet die Autorin ein für die jüngere Generation inzwischen fast utopisch anmutendes Gesellschaftsbild. Ehemänner, die ihrer Frau erlauben oder verbieten können eine Berufstätigkeit aufzunehmen. Frauen die sich aus diesen Gründen gesellschaftliche Nischen suchten, zum Beispiel ein Leben als Künstlerin, oder die sich bewusst für ein von der Mehrheit nicht anerkanntes Singledasein entschieden.
Ein wichtiges Buch, gerade für uns, die Nachgeborenen. Eine einfühlsame Erzählung gegen das Vergessen des inzwischen fast Vergessenen: Familiäres Alltagsleben inmitten des Kriegsgrauens und das Alltagsleben nach dem Krieg, in dem eben dieses Grauen aus Scham, Selbstschutz, Schmerz aber auch aus Bequemlichkeit, wenn nicht vergessen, so doch in den meisten Familien tabuisiert wurde. Menschlich berührend, historisch dokumentierend. Unbedingt lesenswert.
Anne Galle: Rabenzeit. Erzählung; Donat Verlag, 2010, 118 Seiten, 12,80 €
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