75 Jahre Grundgesetz – Ein Grund zum Feiern
Heute feiern wir Geburtstag, einen halbrunden und doch so wichtigen: 75 Jahre Grundgesetz. Das Fundament unserer Demokratie ist angesichts seines Alters ein wenig in die Jahre gekommen, könnte man meinen. Dass dem keineswegs so ist, erleben wir tagtäglich. Noch steht dieses Fundament und trägt, auch wenn es seit Jahren von antidemokratischen Kräften unter Beschuss genommen wird. Auch wenn die Unzufriedenen in diesem Land, sich eine Radikalkur wünschen, gern rückwärtsgewandt in die finsteren Zeiten, in denen kein Gesetz die Würde des Menschen schützte. Doch dieses Gesetz lebt, durch uns, die wir uns als Demokrat:innen verstehen. Es wird lebendig durch alle, die sich dafür einsetzen, dass es nicht nur bedeutungsvolle Worte sind, sondern Worte, die lebendig werden durch Taten, durch Haltung.
Der aus meiner Sicht wichtigste Satz in diesem Grundgesetz steht in Artikel 1 „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Abgesehen davon, dass dieser Satz eine rechtliche Verortung dieses Landes deutlich macht, fordert er von jedem und jeder Einzelnen, in seinem/ihren Verhalten und Handeln die Würde anderer zu achten. Davon sind wir leider auch nach 75 Jahren noch weit entfernt. Warum ich so denke und diesen Satz trotz allem für den wichtigsten Grundpfeiler unseres Miteinanders halte und welche Rolle Frauen bei der Entstehung des Grundgesetzes und in der deutschen Politik – seit Einführung des Frauenwahlrechts 1918 – spielten, darüber schreibe ich in diesem Beitrag.
Ein Blick auf die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden und stellt die Verfassung der Bundesrepublik dar. In den Jahren 1945 bis 1948 war Deutschland besetzt und in vier Besatzungszonen aufgeteilt, die von den Alliierten (USA, Großbritannien, Frankreich und Sowjetunion) kontrolliert wurden. Die politischen und gesellschaftlichen Strukturen Deutschlands lagen in Trümmern und es herrschte ein dringender Bedarf an einem neuen politischen System und einer neuen Verfassung.
1948, auf der Londoner Sechsmächtekonferenz, an der die USA, Großbritannien, Frankreich und die Benelux-Staaten teilnahmen, wurden wichtige Beschlüsse gefasst, die den Weg für die Gründung eines westdeutschen Staates ebneten. Die Konferenz beschloss die Einrichtung eines Parlamentarischen Rates, der eine neue Verfassung für die drei westlichen Besatzungszonen ausarbeiten sollte.
Am 1. September 1948 trat der Parlamentarische Rat in Bonn zusammen. Er bestand aus 65 Mitgliedern, die von den Landtagen der westlichen Besatzungszonen gewählt wurden.
Unter dem Vorsitz von Konrad Adenauer, dem späteren ersten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, arbeitete der Parlamentarische Rat das Grundgesetz aus. Die Beratungen und Diskussionen im Parlamentarischen Rat waren geprägt von unterschiedlichen politischen Ansichten und Interessen, doch es gelang, einen breiten Konsens zu finden.
Am 8. Mai 1949 verabschiedete der Parlamentarische Rat das Grundgesetz. Am 23. Mai 1949 wurde es offiziell verkündet und trat am selben Tag in Kraft. Mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes wurde die Bundesrepublik Deutschland gegründet.
Kurzer Exkurs – Frauen in der Politik
Seit 1918 gibt es das Frauenwahlrecht und somit konnten 1919 erstmals Frauen bei den Reichstagswahlen gewählt werden. So arbeiteten immerhin 37 gewählte Frauen in der Weimarer Nationalversammlung mit, welche die Weimarer Verfassung ausarbeitete. Eine der bekanntesten Politikerinnen dieser Zeit war Marie Elisabeth Lüders (DDP). Sie war eine der ersten weiblichen Abgeordneten und setzte sich besonders für die Rechte von Frauen ein. Von 1953 bis 1961 gehörte sie übrigens dem Bundestag an.
Während der NS-Zeit gab es keine Frauen, die bedeutende politische Positionen innehatten. Die politische Führung und Entscheidungsprozesse waren vollständig in den Händen von Männern.
Immerhin 4 Frauen wurden 1948 in den Parlamentarischen Rat gewählt und prägten das Grundgesetz mit. Ihr Einsatz war entscheidend für die Aufnahme von Gleichstellungs- und Sozialartikeln, die bis heute von großer Bedeutung sind.
Elisabeth Selbert (SPD)
Elisabeth Selbert war eine der bedeutendsten Figuren unter den weiblichen Mitgliedern des Parlamentarischen Rates. Sie setzte sich insbesondere für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern ein. Sie argumentierte überzeugend, dass eine Demokratie ohne die Gleichberechtigung von Frauen unvollständig sei. Ihr hartnäckiger Einsatz führte dazu, dass Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes aufgenommen wurde: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ Diese Formulierung war wegweisend und legte die Grundlage für die rechtliche Gleichstellung der Geschlechter in Deutschland.
Frieda Nadig (SPD)
Frieda Nadig arbeitete ebenfalls aktiv im Parlamentarischen Rat mit und unterstützte Elisabeth Selbert bei ihren Bemühungen um die Gleichberechtigung.
Sie setzte sich auch für soziale Themen und den Schutz der Familie ein. Ihre Arbeit trug zur Formulierung von Artikel 6 bei, der den besonderen Schutz von Ehe und Familie durch die staatliche Ordnung sicherstellt.
Helene Wessel (Mitte)
Helene Wessel brachte ihre Erfahrungen als Politikerin der Zentrumspartei ein und war eine starke Stimme für soziale Gerechtigkeit und den Schutz der Familie. Sie war besonders engagiert in den Diskussionen um den Schutz der Familie und die Förderung von sozialen Rechten.
Helene Weber (CDU)
Helene Weber war eine der führenden Frauen in der CDU und hatte bereits Erfahrung in der Frauenbewegung und im politischen Engagement.
Sie setzte sich für die Anerkennung der sozialen und wirtschaftlichen Rechte von Frauen ein und unterstützte ebenfalls die Formulierungen zur Gleichberechtigung und zum Schutz der Familie.
Wie ging es mit den Frauen in der Politik weiter?
Die erste Bundesregierung unter Bundeskanzler Konrad Adenauer bestand ausschließlich aus männlichen Mitgliedern. Im ersten Deutschen Bundestag, der am 14. August 1949 gewählt wurde, waren jedoch Frauen als Abgeordnete vertreten. Von den 410 Abgeordneten waren 28 Frauen. Dies entspricht etwa 6,8 % der Abgeordneten. Die erste Frau, die ein Ministeramt in der Bundesrepublik Deutschland übernahm, war Elisabeth Schwarzhaupt, die 1961 zur Bundesministerin für Gesundheitswesen im Kabinett Adenauer ernannt wurde. Im aktuellen Deutschen Bundestag sind 35,3 % der Abgeordneten Frauen, was 256 von insgesamt 736 Mitgliedern entspricht. In der aktuellen Bundesregierung, die seit dem 8. Dezember 2021 im Amt ist, gibt es insgesamt 17 Ministerinnen und Minister. Von diesen 17 Regierungsmitgliedern sind immerhin sieben Frauen. Dies zeigt eine langsam wachsende, aber immer noch ungleiche Repräsentation von Frauen in der deutschen Politik. Aus meiner Sicht eine zu langsam wachsende.
Artikel 1 Grundgesetz – Die Würde des Menschen ist unantastbar
Tippe auf das Bild und du wirst zur Quelle der Daten geleitet.
Die Bilder sind Auszüge aus Statistiken zu den Gewalttaten in Deutschland – und das sind nur die von staatlichen Stellen registrierten Taten, die Dunkelziffern liegen um ein Vielfaches höher. Diese Zahlen sind beängstigend und zeigen, dass die Würde des Menschen in Deutschland sehr wohl antastbar ist. Denn sie wird angetastet verbal, durch Blicke, verachtende Haltungen und Gewalt. Sie wird angetastet in Schutzräumen, in Familien, Firmen, in den Medien und auf Social Media. Jeden Tag. Mit gravierenden Folgen für die Opfer und für die potenziellen Opfer: Asylsuchende, Frauen, Menschen nichtweißer Hautfarbe, Menschen mit Behinderungen, LGBTQIA, Kinder, Obdachlose, Juden und Jüdinnen. Es wird Angst geschürt, in dem Hass verbreitet wird. Der Backlash ist im Gange, nicht nur in Bezug auf die Rechte der Frauen, sondern in Bezug auf die Freiheit aller, die nicht auf traditionelle Männlichkeit eingeschworen sind.
Diese Entwicklung ist nicht nur in Deutschland zu beobachten. Sie breitet sich rasant aus, wie eine weltweite Pandemie. Wenn wir nicht wollen, dass diese Pandemie unser aller Leben beschneidet, verengt oder gar beendet, müssen wir uns stärken. Dies können wir tun, indem wir uns einerseits eingestehen, dass wir Angst haben und indem wir andererseits uns solidarisieren. Miteinander und füreinander für die Würde des Menschen einstehen. Hinschauen, eingreifen, wenn gemobbt, geschimpft, gepöbelt wird. Wir müssen nicht zurückpöbeln, das wäre Energieverschwendung, weil unsere Botschaften nicht ankommen, dort, wo die Herzen und Seelen versteinert sind. Aber zusammenstehen, füreinander einstehen, wann immer es notwendig ist. Und ja, dazu gehört auch wählen zu gehen. Für die Würde des Menschen, für die Würde aller Menschen.
Lasst uns 75 Jahre Grundgesetz feiern, auch wenn es nicht perfekt ist
Ich bin mir bewusst, dass dieser Text ein wenig pathetisch ist, aber ich stehe dazu, das sind die Worte, die mir im Augenblick dazu einfallen. Einen Blog zum Thema „Umgang mit den Auswirkungen sexueller Gewalt“ zu schreiben und am Ehrentag nicht über das Grundgesetz zu schreiben, das geht für mich nicht. 75 Jahre Grundgesetz – für mich ist das ein Grund zu feiern. Denn es bedeutet auch 75 Jahre Sicherung des Friedens in Europa. Diese Jahre des Friedens gaben uns die Chance und die Freiräume Ideen zu entwickeln, wie das Leben anders und in vielerlei Hinsicht besser gestaltet werden kann. Keineswegs perfekt, für niemanden. Dafür sind wir zu viele Menschen, mit zu unterschiedlichen Interessen, Präferenzen und Bedürftigkeiten.
Doch genau das macht Demokratie, so wie ich sie verstehe, aus. Wenn wir miteinander gut und in Frieden leben wollen, müssen wir Kompromisse finden. Kompromisse, die es ermöglichen, die jeweils eigenen Räume so weit auszudehnen, wie es möglich ist, ohne die Würde eines anderen Menschen zu verletzen oder diese Verletzungen billigend in Kauf zu nehmen. Das ist ätzend, anstrengend, nervig und dennoch notwendig. Bist du dafür bereit? Ich bin es.
P.S. Ganz besonders gefreut habe ich mich über den heutigen Beitrag meines Blogger-Kollegen Heiko Metz: Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Aufstehen und in Würde strahlen!
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Ich danke dir dafür!
Danke, Heiko, für dieses wichtige Zitat. LG Sylvia
Hallo Sylvia,
vielen Dank für diesen Artikel. Informativ, hilfreich motivierend. So wichtig das Thema! Ganz generell, aber auch angesichts der aktuellen Entwicklungen und Wahlergebnisse in 2024.
Ganz herzlichen Dank auch für deine Verlinkung meines Artikels. So feiern wir gemeinsam das Grundgesetz. Herrlich!
Mir kam die Tage ein ganz wunderbares Zitat unter die Augen, das ich gerne noch dalassen würde: „Glücklich der Mensch, der seinen Nächsten trägt in seiner ganzen Gebrechlichkeit, wie er sich wünscht, von jenem getragen zu werden in seiner eigenen Schwäche“ (Franz von Assisi)
Viele Grüße
Heiko
Danke liebe Pia. Deshalb habe ich deinen Beitrag auch gleich mit verlinkt. Es ist ein so wunderbares Beispiel, wie ihr Demokratie mit Kindern lebt. Überhaupt finde ich den Beitrag wertvoll, wegen der vielen konkreten Beispiele, wie du deinen Kindern ein Vorbild bist. Liebe Grüße Sylvia
Herzlichen Dank für deinen Kommentar, liebe Anita.
Liebe Sylvia,
was für ein wichtiger und kraftvoller Beitrag!
Ich war gestern mit meinen Kindern bei uns im Ort auf einer Veranstaltung der Schulen zur Feier des Grundgesetzes und der Demokratie. Am Tag zuvor wurde im Gymnasium der Europatag groß gefeiert. Ich finde es so wichtig, dass wir unseren Kindern den Wert Demokratie mit auf den Weg geben, indem wir ihn in unserem Alltag ganz konkret leben und immer wieder thematisieren.
Sehr herzlich
Pia
Liebe Sylvia welch ein informativer und wichtiger Artikel.
Ich habe ihn mit Interesse gelesen, herzlichen Dank.
Herzliche Grüße von Anita