Begegnungen – gelesen beim Buchmesse-Lesebrunch

Begegnungen

Jeden Tag stehe ich in der Mittagsschlange der Cafeteria und treffe dort Kollegen aus anderen Abteilungen. Manche davon habe ich schon eine Weile nicht gesehen. Obwohl ich sie bei solchen Begegnungen erwarten könnte, trifft mich die Frage „Wie geht es Dir?“ jedes Mal unerwartet.
Trifft diese Frage auf mein Ohr, schaltet sich sofort alles Denken und Fühlen in mir ab. Ich stehe wortlos vor dem Fragenden und wenn ich einen guten Tag habe, schaffe ich es, mit den Schultern zu zucken.
Häufiger aber befällt mich eine Agonie.
Ich bin unfähig, mich zu bewegen, unfähig auch nur ein Krächzen hervorzubringen.
Meist folgt meinem Schweigen nach wenigen Sekunden ein unverbindliches Schulterklopfen und ein wohlmeinendes „Na wir sehen uns später“ oder eine Überleitung auf das zu erwartende Mittagessen, das schöne oder deprimierende Wetter. Oft huschen die Blicke des Fragenden durch die lange Reihe der Wartenden, auf der Suche nach einem anderen potenziellen Gesprächspartner.

Die meisten dieser Fragenden sind schneller wieder weg, als ich aus meiner Erstarrung erwache. Nur die Hartnäckigen bleiben stehen und legen nach.
Fast immer mit der von mir ebenfalls gefürchteten Zwillingsfrage „Geht es Dir gut?“.

Im Englisch-Unterricht für Anfänger habe ich gelernt, dass die Antwort auf die Frage „How are you“ einfach ist. „I’m verry well“ oder „I’m tired“ oder I’m happy“ sind in dieser Sprache meine Standardantworten. Im Englischen passiert es mir nie, dass ich um eine Antwort auf diese Frage verlegen bin. Warum also in meinem eigenen Sprachraum? Was lähmt mich derart?
Die für mich einfachste Erklärung: Als ich Englisch lernte, war ich eine erwachsene Frau. Ich lernte Vokabeln auswendig und einfache Satzkonstruktionen. Manche meiner Fragen nach dem „Warum ist der Satzbau so?“, wurden von der Lehrerin beantwortet mit „Dafür gibt es keine Erklärung, das kannst Du nur so hinnehmen“. Seitdem nehme ich es so hin, dass diese Frage im Englischen eher dem Small Talk, der Gesprächseröffnung dient. Ich habe nicht weiter hinterfragt, sondern weiter auswendig gelernt.
Zu froh war und bin ich über die wenigen Vokabeln, die sich in meinem Gehirn einisteten und auf die ich bei Bedarf in dieser mir noch immer fremden Sprache zurückgreifen kann. Zu oft hatte ich Situationen erlebt, in denen ich auf Englisch angesprochen wurde und nichts sagen konnte. Weil mir die Worte und der Mut fehlten. Das war mir peinlich. Ich kam mir dumm vor und ob der Sprachbarriere nicht dazugehörend. Seit ich ein paar der Standardantworten parat habe, antworte ich auf die Frage „How are you?“ meist brav „I’m verry well“ oder „I’m tired“. Damit bin ich am Gespräch oder zumindest an der Begegnung beteiligt, gehöre dazu.
Meine Antworten führen nebenbei gesagt dazu, dass die wenigen Menschen, die mir begegnen und mir diese Frage auf Englisch stellen, ein ziemlich falsches Bild von mir haben müssen. Für sie bin ich wahrscheinlich eine permanent gut gelaunte, aber übernächtigte Person, die nachts wer weiß was treibt. Aber sowohl sie als auch ich wissen, dass für die Beantwortung möglicher nachfolgender Fragen mein Englisch nicht ausreicht.
Meistens lächeln wir uns also an, versichern uns gegenseitig, wie sehr wir uns gefreut haben, einander zu treffen und gehen in dem Gefühl auseinander, einem anderen freundlichen Menschen begegnet zu sein.

In meinen Alltagsbegegnungen gelingt mir das leider nicht. Es fehlen mir nicht die Worte, zu beschreiben, wie es mir geht. Ich beherrsche die deutsche Sprache soweit relativ gut, dass ich sie meist auch ganz unbewusst verwende.
Ich gehöre zu den Menschen, die nur selten um Worte verlegen sind, die vornehmlich zügig auf Fragen antworten. Das heißt, ich verfüge über einen genügend großen Wortschatz, bin also durchaus in der Lage ein Gespräch zu führen. Nur eben nicht, wenn ich gefragt werde „Wie geht es Dir?“
Diese Frage überfordert mein System. Vielleicht liegt es daran, dass ich nicht mulitaskingfähig bin. Ich kann meine Aufmerksamkeit immer nur auf eine Sache richten. Kann immer nur ein Vorhaben nach dem anderen erledigen. Bei dieser Frage werden aber mehrere Prozesse gleichzeitig in mir ausgelöst. Einerseits versucht mein Gehirn im Warnecke Areal, das ist das Sprachverarbeitungssystem des Gehirns, den Sinn, den Inhalt der Frage zu entschlüsseln. Andererseits versucht das Stirnhirn in der Region des frontomedialen Cortex den sozialen Kontext zu interpretieren, während im Bereich zwischen den beiden Hirnhälften, der Präcuneus, im Langzeitgedächtnis nach Antworten sucht, die sich mit dem Inhalt der Frage und dem momentanen sozialen Kontext verknüpfen lassen.

Das heißt, neben der inhaltlichen Analyse der Frage, beginnt sofort der Checkup des Gegenübers. Zuerst werden die Basisinformationen abgerufen: Wer ist das? Wo sind wir uns schon einmal begegnet? Wie ist unser Verhältnis zueinander? Verbindet uns etwas? Habe ich mit dieser Person schon negative Erfahrungen gemacht? Ist sie mir sympathisch? Kenne ich ähnliche Situationen? Das alles klärt mein Gehirn innerhalb von Sekunden.
Manchmal verlangsamt sich der Prozess, wenn mir nicht sofort einfällt, woher ich die Person kenne, sie nicht einzuordnen weiß.
Sind diese Fragen geklärt, wechselt der Prozess in eine andere Ebene. Mein System versucht etwas vorwegzunehmen. „Wie sind die Schwingungen zwischen uns?“ „Wie wirkt die Person auf mich?“ „Was will sie von mir?“ „Will sie wirklich etwas über mich wissen?“ „Sucht sie ernsthaft das Gespräch oder geht es um Small Talk?
Bei all diesen Fragen ist meine Aufmerksamkeit im Außen, beschäftigt sich mit meinem Gegenüber und meiner Beziehung zu der Person.
Gleichzeitig hat mein System aber auch die Aufgabe zu bewältigen, eine Antwort auf die Frage zu finden. Das heißt, mein System muss innerhalb von Sekunden umschalten. Die Aufmerksamkeit vom außen nach innen lenken. Gefühle rücken in den Fokus.
Das ist ein Moment der Achtsamkeit. „Wie geht es mir genau jetzt?“
Oft müsste ich an dieser Stelle antworten: „Das kann ich dir so spontan nicht sagen. Gib mir mal einen Augenblick, ich muss es erst erspüren.“
Natürlich sage ich das nicht, weil ich mir sofort vorstelle, was diese Antwort im Gegenüber auslösen könnte. Das spontane Gefühl, vor dieser Verrückten wegrennen zu wollen? Oder die Mitleidsschiene „Du Arme, das wollte ich ja nicht?“. Oder es ist der Chef einer Abteilung, in der ich schon immer gern arbeiten wollte. Ich sehe ihn, die Schultern hochziehend, sich freundlich für das Gespräch bedankend davongehen. Je weiter er sich von mir entfernt, desto leichter sein Gang. Wahrscheinlich beglückwünscht er sich genau in diesem Moment dazu, dass ich nicht in seiner Abteilung arbeite. Zu sagen, wie verunsichert ich gerade bin, ist also keine passende Antwort.
Dauert der Prozess in mir zu lange, passiert es durchaus schon mal, dass ein potenzieller Gesprächspartner beleidigt von dannen zieht, annehmend, ich würde ihn ignorieren oder wäre mir zu fein für eine Antwort. Das war ich nie, nur kam nie einer auf die Idee, dass diese Frage mich derart lähmen könnte.

Deutsch als Muttersprache. Wir lernen unseren Gedanken und Gefühlen durch Sprache Ausdruck zu verleihen, aber kein Lehrer bringt uns bei, welch unterschiedliche Bedeutungen diese eine Frage haben kann. Werde ich heute mit dieser Frage konfrontiert, hilft mir der Rückgriff darauf, was ich im Englisch-Unterricht lernte. Ich bewerte diese Frage eindeutig als eine Begrüßungsfloskel und habe mir zwei, drei Antworten zurechtgelegt.
„Mir geht es gut“ „Ich bin müde“, „Ich habe Hunger“.

Sollten Sie also ernsthaft an einem Gespräch mit mir interessiert sein, stellen Sie mir bitte eine andere, eine direktere Frage. Das empfinde ich nicht als unhöflich, sondern als eine Chance, miteinander ins Gespräch zu kommen.

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Hallo, ich bin Sylvia

systemische Therapeutin, Trauma-Coach und Bloggerin. Seit über 20 Jahren arbeite ich mit Paaren, Familien und Einzelpersonen daran, negative Kindheitsprägungen und frühe Traumata zu lösen und ein Leben voller Selbstvertrauen, innerem Frieden und emotionaler Stabilität zu führen.
Für ein erfülltes Leben in Verbundenheit.

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