Geteiltes Leben: die Suche nach der Identität zwischen DDR und BRD

„Du bist doch aus der DDR“ stellte eine Kommilitonin in Kaiserslautern in einer Pause zwischen zwei Vorlesungen fest. „Ja, da bin ich geboren“, antwortete ich zurückhaltend. Es entspann sich ein angeregtes Gespräch über die Berufstätigkeit von Frauen. Darüber, dass es für uns Ostfrauen so selbstverständlich ist arbeiten zu gehen und sie die erste voll berufstätige Frau ihrer Familie ist. Dieses Gespräch fand 2006 statt und blieb mir aus unterschiedlichen Gründen im Gedächtnis. So beschäftigte mich im Nachgang noch lange meine zögerliche Antwort auf die Feststellung, dass ich aus der DDR bin. Die Ost-West-Diskussionen dieser Zeit nervten mich. Ich identifizierte mich als angekommen in der Demokratie, in Europa. Deutschland mit seiner unbewältigten Vergangenheit war für mich noch immer ein Minenfeld. Eher unbewusst teilte auch ich das Land in Ost- und Westdeutschland und irgendwo Dazwischen hatte ich mich eingerichtet.

Nach diesem Gespräch wurde mir bewusst, dass es dabei auch um Identität ging. Die Frage, was Identität für mich ist. In Gesprächen mit anderen stellte ich fest, dass es gar nicht so einfach ist, diese Frage zu beantworten. Der Gefahr, mit dem Vorwurf der „Ostalgie“ konfrontiert zu werden, war ich jahrelang ausgewichen, indem ich – außer im vertrauten Kreis – die DDR nicht thematisierte. Ich ignorierte diesen Teil meiner Vergangenheit und spürte gleichzeitig, dass diese in Fort- und Weiterbildungen nicht stattfand. Wenn über Erfahrungen gesprochen wurde, waren es westdeutsche Erfahrungen.

Geteiltes Leben: die Suche nach der Identität zwischen DDR und BRD - Verschiedene Aspekte des Begriffs Identität

Heute weiß ich, mein Leben ist ein geteiltes Leben. Es teilt sich ein in ein davor und ein danach. Beides ist Bestandteil meiner Identität. Mit meiner Blogparade #geteiltesleben möchte ich dazu beitragen, dass wir diese beiden Teile als selbstverständlich zu uns gehörend betrachten. Die Erinnerungen und die Geschichten, die wir über uns und unser Leben erzählen, schaffen Identität.

Öffentliches Schweigen, privates Sprechen: Mein geteiltes Leben in der DDR

Wenn ich an meine Kindheit und Jugend in der DDR denke, denke ich oft, dass unser Leben damals auch schon zweigeteilt war. Es gab ein öffentliches Leben und ein privates. Westfernsehen war erlaubt, zu Hause, darüber sprechen sollten wir im Außen nicht. Überhaupt wurde zu Hause anders gesprochen als im öffentlichen Raum. Das bekam ich in der dritten Klasse zu spüren. Ich hatte abends ein Gespräch meiner Eltern mit ihren Freunden belauscht und es fiel der Satz „Wenn nicht die Polen und die Ungarn zwischen uns wären, wären wir doch längst alles Russen.“ Dieser Satz beschäftigte mich. Ich schrieb ihn am nächsten Tag in der Schule auf einen Zettel und gab ihn meiner Banknachbarin zu lesen. Wir schrieben noch ein wenig hin und her und im Anschluss lag der Zettel unbeachtet im Fach unter der Schulbank. Ein Mitschüler nahm ihn in der Pause an sich und gab ihn der Lehrerin.

Das schlug Wellen. Meine Mutter, selbst Lehrerin, musste sich vor dem Schulrat rechtfertigen. Ihr wurde mit Kündigung gedroht. Zu Hause gab es deswegen heftigen Ärger, viel Gebrüll und Schläge. Der Vorfall passierte kurz vor dem Schuljahresende und eine Bedingung des Schulrates an meine Mutter war, dass ich mich öffentlich entschuldige. Am letzten Schultag vor den Sommerferien hatte ich den schlimmsten „Bühnenauftritt“ meines Lebens. Ich musste mich vor den zum Fahnenappell versammelten Schüler:innen der Klassen eins bis zehn für meine Verfehlung entschuldigen und geloben, dass ich die DDR und ihren Bruderstaat Sowjetunion achte und ehre. Nie wieder habe ich mich für eine Lüge so sehr geschämt wie damals.

Damals schwor ich mir, dass ich nie wieder zwingen lasse, zu lügen. Der Inhalt der Lüge war mir als 12-Jährige damals egal, aber der Fakt, zu etwas gezwungen worden zu sein, was ich nicht wollte, prägt mich bis heute. Ich hasse Unaufrichtigkeit.

Geteiltes Leben: die Suche nach der Identität zwischen DDR und BRD - Aspekte und Formen der Unaufrichtigkeit: Lügen, Verschweigen, Heuchelei, Täuschung, Manipulation, Doppelmoral

Das Leben in der DDR: Prägungen, die mich bis heute begleiten

Wenn ich darüber nachdenke, wie mich das Leben in der DDR geprägt hat, dann sind das vor allem solche Selbstverständlichkeiten, die ich als Kind und Jugendliche nicht hinterfragt habe:

  • Alle Erwachsenen in meinem Umfeld waren berufstätig. Niemand hatte Angst vor Arbeitslosigkeit.
  • Aber es gab Menschen, die keiner Arbeit nachgingen, denn über sie wurde sehr abfällig gesprochen. Das waren „Asoziale“. Später lernte ich, dass auch Menschen, die nicht in das gängige Bild passten – Gruftis, Punks, Blueser – ebenfalls als asozial beschimpft wurden, selbst wenn sie arbeiten gingen.
  • Kinder gingen in die Krippe, die Kita und den Hort und waren vor und nach der Schule Schlüsselkinder und auf sich allein gestellt.
  • Milch in Plastikbeuteln stinkt.
  • Die ärztliche Versorgung und die dazugehörende Medizin waren kostenfrei.
  • Frauen durften über ihren Körper selbst entscheiden. Ob ein Kind ausgetragen wurde oder nicht wurde in der Familie diskutiert, aber das letzte Wort hatte die Frau.
  • Frauen sind für den Haushalt zuständig.
  • Die besten Noten in der Schule verhelfen dir nicht zum Abitur, wenn du nicht in der FDJ bist und deine Eltern in kirchlichen Einrichtungen arbeiten.

Es ist schwer, in Worte zu fassen, was mich geprägt hat. Einfacher ist es zu beschreiben, was diese Prägungen für Auswirkungen auf mich haben. So entwickelte ich unter anderem früh ein Gespür für Ungerechtigkeiten und bis heute fällt es mir schwer, diese hinnehmen zu müssen. Ebenso früh entwickelte ich ein Gespür dafür, wann jemand unauthentisch ist, eine Meinung vertritt, hinter der er oder sie nicht steht, die übernommen wurde, weil sich die Person etwas davon verspricht. Prinzipienreiter und Moralapostel sind mir ebenso suspekt wie Menschen, die immer recht haben und keine andere Meinung gelten lassen. Bis heute verstehe ich nicht, wie es sein kann, dass Land, Wälder und der Boden, auf dem Häuser gebaut werden, Privateigentum sind.

Alte Gesetze, neue Freiheiten: Die Ambivalenz der Wiedervereinigung

In meinem Leben hat sich durch die Wiedervereinigung nicht so viel und alles verändert. 1990 war ich gerade einmal 24 Jahre alt. Jung genug, dass die Frage nach dem „Was will ich mal werden, wenn ich groß bin“ noch offen war. Ich war vorher auf der Suche und war es danach auch. Noch war nichts fest in meinem Leben, außer der Verantwortung für meine Tochter. Einen Job zu verlieren, der mir ohnehin keinen Spaß gemacht hat, war für mich nicht schlimm. Geld verloren hatte ich auch nicht, denn ich hatte schlicht und ergreifend kein Geld. Weil ich nichts hatte, konnte ich nichts verlieren und stellte stattdessen mein Konto denen zur Verfügung, die etwas zu verlieren hatten. Die Ämter änderten sich, plötzlich gab es ein Arbeitsamt. Die Geschäfte waren voller und an jeder Ecke stand irgendein Dödel, der mir etwas andrehen wollte.

Gesetze änderten sich. Vor allem die Wiedereinführung des §218 machte mich furchtbar wütend. Was für ein Rückschritt. Gleichzeitig konnte ich reisen, meine Freundinnen in Hessen und Westberlin besuchen. Bis heute ist jeder Grenzübertritt ein Fest für mich. Ich genoss es, im Buchladen freie Auswahl zu haben und bedauerte gleichzeitig, dass die vielen kleinen Buchhandlungen, die das Stadtbild von Leipzig prägten, wenigen Großen wichen. Das Leben, die Geschäfte wurden bunter und gleichzeitig normierter. Ich weiß noch, wie entsetzt ich beim Anblick von hässlichen Einkaufszentren am Stadtrand war, die heute zur Normalität an jedem Stadtrand gehören.

Verändert hat sich auch, dass mein Handeln und Schreiben sich früher gegen etwas richtete und „zumindest“ von der Stasi wahrgenommen wurde. Einige meiner Gedichte fand ich in der Akte wieder. Später richtete sich mein Schreiben an „Zielgruppen“ und wurde ich nicht gelesen, lag es am Marketing, von dem ich keine Ahnung hatte. Heute ist alles irgendwie Marketing.

Geteiltes Leben: die Suche nach der Identität zwischen DDR und BRD - Zitat von Annett Gröscher: Drei Hauptsätze der Thermodynamik. Der erste Hauptsatz heißt: Du kannst nicht gewinnen. Der zweite: Die Chancen sind nicht gleich verteilt. Der dritte: Du kannst nicht aussteigen aus dem Spiel.

Lesetipps

Falls du Lust hast, dich ein wenig in die Materie einzulesen, liste ich dir hier noch ein paar Bücher auf.

  • Voll der Osten / Totally East: Leben in der DDR“ von Harald Hauswald – Ein Bildband, der das Leben in der DDR dokumentiert. Der Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung der Bundesstiftung Aufarbeitung bietet eindrucksvolle Fotografien und Beschreibungen des Alltags in der DDR​.
  • Lütten Klein: Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft“ von Steffen Mau – Dieses Buch beschreibt das Leben im Rostocker Neubauviertel Lütten Klein während und nach der Wende. Es thematisiert die sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen, die die Bewohner dieser Region erlebten​​.
  • DDR im Plural. Ostdeutsche Vergangenheiten und ihre Gegenwart“ – Eine Sammlung von 25 Essays junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die verschiedene Aspekte des DDR-Lebens und dessen Nachwirkungen bis heute untersuchen. Das Buch bietet eine multiperspektivische Sicht auf die DDR-Geschichte und lädt zum Nachdenken und Diskutieren ein​.
  • Der Osten: eine westdeutsche Erfindung. Wie die Konstruktion des Ostens unsere Gesellschaft spaltet“ von Dirk Oschmann – Was bedeutet es, eine Ost-Identität auferlegt zu bekommen? Eine Identität, die für die wachsende gesellschaftliche Spaltung verantwortlich gemacht wird? Der Attribute wie Populismus, mangelndes Demokratieverständnis, Rassismus, Verschwörungsmythen und Armut zugeschrieben werden? Etwas polemisch, aber dennoch lesenswert.
  • Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat“ von Annett Gröschner, Peggy Mädler, Wenke Seemann – Es wird getrunken, gelacht und gerungen, es geht um Erinnerungsfetzen und Widersprüche, um die Vielschichtigkeit von Prägungen und um mit den Jahren fremd gewordene Ideale. Das Buch ist dem Erinnern und dem Sich-neu-Erfinden gegenüber so gewitzt und warmherzig, wie es jede große Gesellschaftsdiskussion verdient.

Zum Schluss

Es gibt noch vieles, was sich für mich verändert hat. Eine Sache war sogar mit einem großen AHA für mich verbunden. Natürlich wusste ich, dass es Religionen gibt, unterschiedliche Religionen. Doch ich kannte nur sehr wenige gläubige Menschen. Das änderte sich nach dem 11. September 2001. Erst mit dem Attentat begann ich mich für Weltgeschichte und Weltreligionen zu interessieren und stellte fest, dass die Atheisten, weltweit gesehen in der absoluten Minderheit sind. Laut einer Umfrage von Gallup International 2022 in über 60 befragten Ländern, betrachten sich lediglich 24 Prozent der Menschen als nicht religiös und 10 Prozent als atheistisch. Das hat mich wirklich überrascht.

Mir fallen zu diesem Thema sicher noch verschiedene Erinnerungen und Gedanken ein. Deshalb werde ich diesen Artikel fortlaufend ergänzen. Schau also gern wieder mal hier vorbei. Wenn du selbst deine Gedanken und Erfahrungen teilen möchtest, kannst du dies gern hier in den Kommentaren tun. Oder du beteiligst dich an meiner Blogparade #geteiltesleben. Auf diese oder jene Weise, ich freue mich von dir zu lesen.

Herzliche Grüße Sylvia

7 Kommentare

  1. Volker Wudke 8. September 2024 um 21:08 Uhr

    Liebe Sylvia, ich freue mich über deinen interessanten Blogaufruf und auch über die Entscheidung, die Einreiche-Frist zu verlängern.
    Als ich das Thema gelesen hatte war ich etwas verunsichert wegen des Titels „Geteiltes Leben“. Kann man ein Leben teilen? Es ist mir natürlich klar, dass das metaphorisch zu sehen ist, aber Berichte, Erzählungen oder gar Erklärungen über das Leben in der DDR und die folgenden Jahre der Wiedervereinigung, sind oft verklärt, oft intellektuell überzogen oder dienen nicht selten nur dem Broterwerb.
    Allerdings fand ich die Berichte im Blog gut und wollte so schnell wie möglich auch was dazu schreiben, dabei merkte auch ich, dass das gar nicht so einfach geht. Ich habe in den letzten Tagen viel darüber nachgedacht und war über mich selbst erstaunt, wie viele Gedanken dazu in meinem Kopf erst mal ein Wimmelbild erzeugten. Gut war auch dein Buchtipp
    „Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat“. Sehr zu empfehlen und exzellent recherchiert.

    Einleitend muss ich erst mal schreiben, dass ich sehr froh bin, dass die DDR nicht mehr existiert. Ein Land, in dem leere Bier- und Colabüchsen aus Westdeutschland in gefühlt jedem zweiten Haushalt als Deko auf den Küchenschränken stehen, ist per se dazu verurteilt unterzugehen. So viel Kleinbürgerlichkeit verkraftet kein Land. Damals konnte ich das zwar nicht so in Worte fassen aber verwundert hat es mich.
    Genauso war ich mit Beginn meiner Ausbildung (1979, Stahlbauschlosser im Kirow Werk) verwundert (in der Schule klang über die Arbeiterklasse alles so heroisch, homogen und siegesgewiss) über das Gemecker meiner Kollegen über den Staat oder über die Partei oder über die Versorgungslage oder darüber, dass einer einen Farbfernseher hatte und einer eben nicht.
    Anderseits wurde während der Arbeitszeit beschummelt (ein Meister im Kirow Werk erfand den 25 Stundentag ) es wurde sich gelangweilt, es wurde geklaut, es wurde Pfusch produziert, es wurde während der Arbeitszeit gesoffen und bei Familientreffen, Kegelabenden oder Geburtstagen damit geprahlt.
    Es wurde aber auch normal gearbeitet und gelebt. Westdeutschland war für einen Großteil der Bevölkerung das gelobte Land und die Gegebenheiten wurden von vielen so hingenommen. So empfand ich das damals jedenfalls und war ja selber in der DDR eingerichtet. Mit 25 Jahren verheiratet, eine Tochter, eine halbwegs vernünftige Wohnung und mit dem Trabi im Sommer an die Ostsee.
    Trabi, Wohnung und Ostseeurlaub haben aber nur funktioniert, weil ich neben meiner Arbeit mir selber beigebracht hatte, Autos zu reparieren, also nicht nur zu reparieren, sondern sehr kaputte Trabis wieder aufzubauen kpl. mit Lackierung, Motortausch und regenerierter Karosse.
    Ich war fähig, in einer Nacht das Geweih, das wichtigste Teil der Karosse eines Trabis, zu tauschen. Brachte mir viel Bewunderung und viele Ostmark.
    Ich wollte nicht abhängig sein von Autoschlossern, Kellnern, Handwerksmeistern oder Gemüseverkäufern.
    Habe aber eigentlich nur die Abhängigkeit anderer ausgenutzt, damit es meiner Familie und mir materiell gut geht, was wiederum nur in dem System DDR mit seiner verkorksten Plan- und Mangelwirtschaft funktionierte und auch schon eine Zweiklassen-Gesellschaft befeuerte.
    Es war alles ziemlich illegal und eine gewisse kriminelle Energie war auch nötig, schließlich war es Schwarzarbeit in Reinkultur.
    Die Erkenntnis, wenn du ein vernünftiges Leben haben möchtest, musst du dich selber kümmern, ist daher eine der wichtigsten Prägungen, die ich aus der DDR mitgenommen habe.
    Dann kamen die Montagsdemos im Herbst 89, es war eine fantastische Zeit. In einer großen Menschenmenge Gleichgesinnter um den Ring zu laufen und für Veränderungen zu demonstrieren, gab mir das Gefühl von ein wenig Unsterblichkeit. Alles war aufregend, die Nachrichten wurden aufgesaugt wie der erste Liebesbrief alles wurde diskutiert, teils blauäugig teils fachmännisch. Plakate wurden aus Bettlaken hergestellt („SED aus den Betrieben“ war mein Spruch) und das Gefühl, Geschichte zu schreiben, legte sich wie ein kostbares Gewand um die Seele. Leider trottelte das Gewand schnell wieder auf.
    Die Gleichgesinnten drifteten nach kurzer Zeit auseinander (nach der Grenzöffnung sehr rasant) die einen wollten Wiedervereinigung, die anderen wollten nur ein Auto, einige wollten Umweltverbesserungen und wieder andere wollten eine eigenständige, reformierte DDR, es gab so viele unterschiedliche Ansichten wie Sprüche in einem Abreißkalender.
    Diese Zeit von Herbst 89 bis Februar 90 hat mich insoweit geprägt, dass ich erkannte, wie schnell sich etwas verändern kann, wie schnell Lebensentwürfe zerschellen können, wie schnell Freunde sich abwenden, wie ängstlich und fragil eine Gesellschaft sein kann. Geprägt hat mich aber auch die Erkenntnis, was alles möglich ist, dass das direkte Umfeld, also Lebenspartner, Kinder und Familie, der wichtigste Anker ist, dass man sein Leben komplett selber gestalten kann und sogar muss, dass Freiheit keine Phrase ist, sondern sehr viele Möglichkeiten eröffnet.
    Ab der Grenzöffnung war für mich klar, dass mit oben genannten Fähigkeiten kein Blumentopf mehr zu gewinnen war. Daher erst mal nach Westdeutschland, wie machen die das, wie leben die dort, wie wird gearbeitet. Ist es wirklich das gelobte Land.
    Dort wieder die gleiche Verwunderung: In der Firma, in der ich als Schlosser anfing (ein großer Werbetechnikbetrieb), wurde genau so gemeckert, diesmal auf die Chefs, auf die Preise, auf die Regierung, auf die Jugos und Türken – auf die „Ossis“ noch nicht.
    Es wurde aber nicht gesoffen, (jedenfalls wurde nicht damit geprahlt), kein Pfusch verließ die Firma und gelangweilt wurde sich auch nicht, eher im Gegenteil. Die Arbeit war gut durchorganisiert und ich verdiente relativ viel Westgeld.
    Es war eine schwierige Zeit für mich, einerseits verdiente ich Westgeld, anderseits war die Familie in Leipzig, ich pendelte, wie so viele und fühlte mich nicht wohl.
    Daher, gut bezahlte Stelle gekündigt, kurze Zeit für weniger Geld (allerdings auch Westgeld) in einem Handwerksbetrieb in der Nähe von Leipzig als Werkstatt-Leiter an den Start gegangen (der Westdeutsche Chef empfand meine Arbeitszeit von einem dreiviertel Jahr bei einer Konkurrenz-Firma als ausreichende Qualifizierung). Dort hätte ich sicherlich Karriere machen können und materiell wäre es meiner Familie und mir auch gut gegangen. Es war aber nicht mein Ding, ich war abhängig (letztendlich ist man immer von irgendwas abhängig) vom Chef, von seiner Art eine Firma zu leiten, von seinen Ansichten. Dabei hat mich nicht das sogenannte kapitalistische System gestört, ich mache mich krumm und mein Chef trinkt Champagner, was sowieso so nicht stimmt, sondern die Grenzen, die mir auferlegt wurden.
    Also machte ich mich im Oktober 1991 selbstständig und gründete eine Werbetechnik-Firma. Was in Westdeutschland gang und gäbe ist sollte doch auch in Leipzig möglich sein, ohne Illegalität und mit sehr viel Elan und mit der DDR-Erfahrung, Kümmere Dich selber.
    Die Anfangszeit war extrem unsicher, was ist Mehrwertsteuer? Was bedeutet Prolongation? Was ist ein Carnet ATA? Diese Fragen tauchten auf. Wie bekomme ich Aufträge. Wie wird bezahlt. Was muss alles auf der Rechnung stehen.
    Die Erfahrungen, die ich im Kirow-Werk und bei den zwei Firmen als Angestellter gemacht hatte, halfen mir sehr, Arbeit ist Arbeit und Verwaltung ist Verwaltung, das ist überall auf der Welt so.
    Enorme Unterstützung kam von der Familie, ein Wohnzimmer mit Telefonanschluss wurde kurzfristig abgegeben, bei Montageaufträgen wurde gegen einen kleinen Obolus mitgeholfen, Aufträge wurden über Verwandte und Bekannte vermittelt. Ich hatte tatsächlich die Freiheit, selbstständig zu arbeiten, mein Leben selbst zu bestimmen, das war eine tiefgreifende Erfahrung
    Es war und ist kein Zuckerschlecken und gewisse kriminelle Energie braucht man auch, aber die Chance, die sich geboten hat, wurde genutzt, das ist, bei allen Vor- und Nachteilen der jetzigen Gesellschaft, nicht hoch genug zu bewerten.

    Abschließendes Fazit zum Blog-Thema:
    Das Leben verläuft eigentlich linear, wobei es zum Beispiel bei einer Hochzeit ein davor und ein danach gibt. Also auch eine Teilung. Genauso war es im Herbst 89, es gab ein davor in der DDR und ein danach in der BRD – das teilt das Leben ebenfalls. Die Identität ändert sich aber nicht, wenn ich gefragt werde, wo ich herkomme, sage ich mit stolzer Stimme, aus Leipzig der schönsten Stadt der Welt.

  2. Sylvia Tornau 2. August 2024 um 16:17 Uhr

    Danke fürs Lesen und kommentieren, liebe Birgit.

  3. Birgit Buchmayer 1. August 2024 um 22:59 Uhr

    Liebe Sylvia,
    ich bin ja ein Wessie und habe keinerlei Verbindung zur ehemaligen DDR gehabt. Klar habe ich mich über die Wende damals gefreut und dass wir nun wieder ein Land sind. Was das letztendlich für die Menschen bedeutet habe ich ehrlicherweise nie hinterfragt.
    Deshalb habe deinen Artikel mit großem Interesse gelesen. Durch deine Geschichte kann ich jede Menge lernen. Vielen Dank und liebe Grüße, Birgit

  4. Sylvia Tornau 31. Juli 2024 um 23:56 Uhr

    Oh Oh, liebe Ingrid. Da machst du ja ein Thema auf. Identität. Zum Glück ist es bis zur nächsten Blogparade ja noch ein Stück hin ?

  5. Sylvia Tornau 31. Juli 2024 um 23:29 Uhr

    Liebe Karina, Danke fürs Teilhabenlassen an deiner Geschichte!

  6. Ingrid Dankwart 31. Juli 2024 um 16:32 Uhr

    Wow, mit dem Beitrag hast du mich voll abgeholt als ehemaliges Ostkind. Ich kann vieles unterschreiben. Mir geht es wie dir, das Gefühl für Ungerechtigkeit und Nicht-Authentisch-Sein ist sehr ausgeprägt. Das verstehen einige nicht.

    Danke für diesen wertvollen Beitrag und ich denke, er ruft nach einer Blogparade zum Thema Identität. 😉

    Viele liebe Grüße Ingrid

  7. Karina Schuh 28. Juli 2024 um 21:06 Uhr

    Danke liebe Sylvia für diese Inspiration, über unsere Vergangenheit in der DDR nachzudenken und dies festzuhalten.
    Gerade dieses Wochenende habe ich meine Familie besucht und auch diesen Artikel dazu geschrieben.
    https://karinaschuhphotography.com/wie-die-ddr-meine-jugend-praegte-und-die-wende-mir-freiheit-schenkte/

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Hallo, ich bin Sylvia

systemische Therapeutin, Trauma-Coach und Bloggerin. Seit über 20 Jahren arbeite ich mit Paaren, Familien und Einzelpersonen daran, negative Kindheitsprägungen und frühe Traumata zu lösen und ein Leben voller Selbstvertrauen, innerem Frieden und emotionaler Stabilität zu führen.
Für ein erfülltes Leben in Verbundenheit.

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