Zeit für mich

Ich renne. Renne. Atemlos renne ich in den Supermarkt, Brot, Butter, Obst kaufen. Renne zurück ins Büro, um den Bericht noch rechtzeitig zum Termin abzugeben. Renne, um die Stapel an Arbeit zu verteilen, Fertiges abzuliefern, noch Benötigtes zu besorgen. Renne Informationen hinterher, renne das sich permanent erneuernde Wissen zu erhaschen. Ich renne um fit zu bleiben, Fett zu verbrennen, den Alterungsprozess hinauszuzögern. Ich renne und renne, bis ich nicht mehr weiß, warum ich renne. Renne trotzdem weiter, automatisch, weil ich nicht anders kann, weil ich mir nicht vorstellen kann nicht mehr zu rennen. Ich renne. Bis zu jenem Moment, an dem ich jeglichen Bezug zum eigenen Handeln, zu den Aufgaben die ich erledigen wollte, zu den Menschen um mich herum verloren habe. Alles um mich scheint stillzustehen, obwohl ich doch sehe, höre, dass da nichts still steht. Um mich herum flirrt, rennt, kreist es in permanenter Bewegung. Ich stehe im still Inneren all dieser Bewegungen, all des Flirrens. Sehe die Schatten der Anderen an mir vorbeirauschen. Es wirbelt, kreist. Ich stehe still im Auge dieses Hurrikans, der Leben heißt. Aus all dem Wirbeln um mich herum löst sich ein Schatten. Steuert auf mich zu, nimmt Gestalt an, zeigt sich mir als ein fünfjähriges Mädchen.
„Willst du mit mir spielen?“ fragt sie und sieht aus weitgeöffneten Augen hoffnungsfroh zu mir auf. Ich antworte nicht. Kann nicht antworten. Selbst das Schlucken fällt mir schwer. Die Hoffnung weicht aus dem Gesicht des Kindes.
„Entweder sie rennen oder sie sind zu Statuen erstarrt“ spricht das Kind, wendet sich mit langsamen Bewegungen von mir ab. Ihre Konturen verschwimmen wieder und sie verschwindet wieder im Strudel der Zeit.
Eine Stimme in meinem Kopf wird laut:
„Reiß dich zusammen! Du musst noch drei Anträge fertigstellen, den Dienstplan überprüfen, zwei Berichte schreiben und Frau Richter hast du einen Rückruf versprochen! Wer soll denn die Zeit aufholen die du hier vertrödelst? Steh hier nicht so blöd rum. Lauf endlich. Lauf!“
Ich versuche es. Versuche den Fuß zu heben, versuche meinen Körper in Bewegung zu bringen. Es geht nicht. Nichts geht. Ich stehe und starre in das mich umgebende Rauschen der Geschäftigkeit. Dieses Flirren, diese Geschwindigkeit um mich herum quält mich. Meine Augen schmerzen. Werde ich jetzt verrückt?
„Ja dann mach halt endlich einmal Pause“ sagt eine andere Stimme in mir. „Wenn du dich schon nicht hinlegen kannst, dann schließ wenigstens deine Augen!“
Vom mich umtosenden Treiben lenke ich die Konzentration auf meine Augen. Frage mich, wie ich vergessen konnte, dass ich Augenlider habe. Augenlider zum Öffnen und Schließen meiner Augen. Zum Aussperren der Welt. Ich strenge mich an meine Augen zu schließen. Die Bewegung stottert, schmerzt, dann stehe ich in totaler Finsternis. Spüre meine Füße fest auf dem Boden. Höre das Rauschen meines Blutes, das leise Pom Pomm meines Herzschlages. Pom Pomm. Pom Pomm.
‚Blut ist rot‘ denke ich und aus der Schwärze des Dunkels in mir leuchten rote Farbpunkte auf. Ich höre noch etwas anderes, ein weiches Schaben. ‚Es raschelt‘ denke ich. Blätter rascheln, wenn der Wind über sie streicht. Blätter hängen an Zweigen, die hängen an Ästen und die ragen aus dem Stamm. ‚Bäume‘ denke ich und ‚Apfelwiesen, Sträucher, Rosen und Lavendel‘. Blätter rascheln an Bäumen, Bäume stehen auf Wiesen, Gras raschelt auch. Ohne die Augen zu öffnen sehe ich die Wiese, auf der ich stehe und sehe das Blattwerk einer Linde sich mit dem Wind wiegen. Ich rieche gemähtes Gras. Die Wärme des sich gen Abend neigenden Tages durchströmt mich. Weit entfernt höre ich das glucksende Lachen eines Kindes. Ganz in der Nähe ein trippelndes Schlurfen. Hinter dem Haselstrauch taucht eine Frau auf. Klein, zart, mit hochgestecktem weißem Haar und vielen kleinen Falten im Gesicht. Wie eine kostbare Schale trägt sie ein Buch vor sich her. „Was lesen Sie da?“ frage ich.
„Ach wissen Sie, ich überprüfe nur, ob das, was ich vor Jahren geschrieben, heute noch Gültigkeit hat“ antwortet sie und zeigt mir den Einband des Buches.
‚Hilde Domin‘ lese ich und ‚Wozu Lyrik heute‘.
Sie lacht. „Wenn ich Sie hier so sehe, so selbstvergessen über ein wenig Landschaft staunend, dann glaube ich, der alte Sartre hatte recht, als er sagte „Nicht darauf, was man aus dem Menschen gemacht hat, kommt es an. Sondern auf das, was er aus dem macht, was man aus ihm gemacht hat.“
„Ja“ sage ich, „da könnten Sie recht haben. Aber was bitte ist LYRIK?“
Das Sanfte aus ihrem Blick schwindet. Sie blättert ein wenig in ihrem Buch und liest mit fester Stimme „Der Lyriker biete den Menschen etwas, das nicht wieder zur Vorbereitung für etwas anderes wird: das ‚Unnütze‘ und zugleich ‚Unverzichtbare‘, wie wir es definierten, das, worauf es in Wahrheit ankommt.“
Sie sieht mich an, sucht in meinem Blick ein Erkennen, einen Hauch von Verstehen. Findet es nicht. Zieht die Stirn kraus. Liest weiter. „Ohne dies Innehalten, für ein ‚Tun‘ anderer Art, ohne die Pause, in der Zeit stillsteht, kann Kunst nicht angenommen werden, noch verstanden, noch zu eigen gemacht. Darin ist die Kunst der Liebe verwandt: Beide ändern das Zeitgefühl.“
Ich nicke ohne es zu wollen mit dem Kopf.
„Verstehen Sie?“ fragt sie, an einer Antwort offensichtlich nicht interessiert.
„Lyrik lädt uns ein zu der einfachsten und schwierigsten aller Begegnungen, der Begegnung mit uns selbst.“ Mit Nachdruck schlägt sie das Buch vor meiner Nase zu, so dass ich den Lufthauch auf meiner Haut spüre, der Atem des alten Papieres sich in meiner Nase verfängt. „So junge Frau, wenn Sie immer noch wissen wollen was Lyrik ist, dann öffnen Sie jetzt Ihre Augen und suchen den Weg in die nächste Bibliothek. Lesen Sie. Lesen Sie viel und vor allem lesen Sie Lyrik! Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte“
Bevor ich etwas erwidern kann lässt die alte Dame ab von mir und geht energischen Schrittes auf den Ginsterbusch am Wegesrand zu, hinter welchem sie alsbald entschwunden ist.
„Und wenn Sie dann immer noch nicht weiterwissen“ ruft sie aus der Ferne „dann schließen Sie Ihre Augen wieder und kommen Sie zurück an diesen Ort. Hier finden Sie Ihre Fragen und vielleicht auch ein paar Antworten.“
Ihre Stimme verhallt im lauter werdenden Rauschen des Windes. Ich starre auf den Ginsterbusch. Sehe die weiße Blütenfülle. ‚Ginsterbusch‘ denke ich und die Luft um mich herum ist vom süßlichen Sonnenduft erfüllt.
Etwas zerrt an meinem Arm. Ich will es abschütteln, vergeblich es zerrt weiter. Zerrt. Ich öffne die Augen. Sehe auf das Mädchen mit dem hoffnungsfrohen Blick.
„Spielst du jetzt mit mir?“ fragt sie, während ich bemerke, dass sich der Zeitnebel mit den rotierenden Schatten weit an den Horizont zurückgezogen hat.
Ich stehe auf einer Wiese unter einer Linde. Haselnusssträucher zieren rechts von mir den Wegesrand, Ginsterbüsche den Wegesrand links von mir.
„Ja“ sage ich. „Ja. Lass uns spielen!“

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