Das Thema Würde beschäftigt mich schon sehr lange, auch wenn ich es früher nicht so genannt hätte. Ich hätte es vielleicht als Authentizität und Ausstrahlung beschrieben und beides gehört für mich heute noch immer dazu.
Das erste Mal bewusst ist mir dieser Begriff eingefallen, als ich 1991 durch Florenz spazierte. Mir begegnete ein alter Mann im hellen Leinenanzug, mit Sommerhut. In seiner Kleidung waren ein paar Löcher, aber der Anzug war sauber und, was bei Leinen ja sehr auffällt, gebügelt. Dieser Mann war offensichtlich arm, denn er stand vor einem Museum und sang. Er sang mit geschlossenen Augen und hatte eine berührende Stimme. Fast alle Vorübergehenden blieben stehen und lauschten und keiner lief vorbei, ohne etwas in seinen Becher zu werfen. Als er fertig war, verbeugte er sich, bat ein Mädchen, ihm den Becher zu reichen und ein verschmitztes, warmes Lächeln lag auf seinem Gesicht. Ich fand diesen Mann, seine ganze Erscheinung so strahlend und würdevoll.
Seit ich mich mit den Themen Lebensfreude, Selbstentwicklung, Beziehung leben und mit den Auswirkungen von Kindheitstraumata beschäftige, begegnet mir der Begriff Würde immer wieder. Er fasziniert mich und ich halte Würde für einen der wichtigsten Werte im menschlichen Leben!
Was ist Würde und warum ist es so wichtig, in Würde zu leben?
Was ist Würde?
Zunächst einmal ist Würde ein Menschenrecht und steht sogar in unserem Grundgesetz. Zu schützen sind die Freiheit des Menschen, seine körperliche und seelische Unversehrtheit, seine Religionsfreiheit und das alles unabhängig von Alter, Religion, Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht. Körperliche Unversehrtheit bedeutet auch, kein Mensch darf geschlagen, misshandelt oder gefoltert werden. So weit in der Theorie. Doch in die Praxis übersetzt, wissen heute nur noch wenige Menschen etwas mit dem Begriff anzufangen. Es ist ein scheinbar antiquierter Begriff, der im Alltag nicht sehr häufig in unserem Bewusstsein vorkommt.
Duden
Laut Duden ist Würde
- ein Achtung gebietender Wert, der einem Menschen innewohnt und die ihm deswegen zukommende Bedeutung
- Bewusstsein des eigenes Wertes (und dadurch bestimmte Haltung)
Instagram-Umfrage
In einer kleinen Umfrage, in der ich darum bat, das eigene Verständnis des Begriffes in einem Satz oder Wort zusammenzufassen, erhielt ich folgende Antworten: „Selbstwert, Selbstermächtigung“, „Freiheit“, „nicht verletzt werden“, „mich nicht verstellen müssen“ und „Würde ist, dass ich mich nicht schämen muss“.
Film der Robert-Bosch-Stiftung
Im Film der Robert-Bosch-Stiftung „Was bedeutet Würde eigentlich?“ sagen die Befragten dies: „Ich kann die Person sein, die ich bin.“ „Ich kann so leben, wie ich es will.“ „Es ist das Recht da zu sein, zu existieren.“ „Ohne die Würde des anderen zu respektieren, geht es nicht miteinander.“
frei nach Dr. Gerald Hüther
Dr. Gerald Hüther, Neurobiologe und Autor beschäftigt sich in zahlreichen Interviews und in seinem Buch mit dem Titel „Würde“ mit dem Thema. Nach ihm, besagt der Begriff Würde, dass jeder Mensch geachtet werden muss. Kein Mensch darf wie eine leblose Sache behandelt oder verachtet werden. Jeder Mensch ist ein Subjekt und darf nicht zum Objekt gemacht werden. Letztendlich ist es aber genau das, was wir von klein auf Lernen, dass andere uns zum Objekt machen, dass wir andere zum Objekt machen und dass wir uns selbst zum Objekt machen. Das geht auf Kosten unserer Würde, weil nur ein Subjekt ein Würdebewusstsein haben kann.
Verena König
In ihrem Podcast Trauma und Würde erzählt Verena König es so: „Viele Menschen assoziieren Würde ganz unbewusst und ganz natürlicherweise mit etwas, was innerlich aufgerichtet, mit etwas Kraftvollem, etwas Strahlendem und etwas Großem, Berührendem.
Was bedeutet das konkret für jede:n von uns im Alltag?
Sprachlich-kulturell enthält das Wort „Würde“ den Begriff „Wert“ . Übersetzt bedeutet das in meiner Definition: Würde ist Wertschätzung. Es ist die Wertschätzung, die ich einem anderen Menschen entgegenbringe und die andere mir entgegenbringen. Fast noch wichtiger aber: Es ist die Wertschätzung, mit der ich mir selbst begegne. Wenn etwas einen Wert hat, hat es auch eine Würde (Verena König). Und wenn jeder Mensch eine Würde hat, bedeutet das eben auch: jeder Mensch ist wertvoll. Auch ich, auch Du! Nur wie oft begegnen wir uns selbst so? Behandelst du dich wie ein wertvolles Wesen? Das kannst du ganz einfach überprüfen: Wie sprichst du mit dir selbst, wenn es mal nicht so gut gelaufen ist, du vielleicht einen Fehler gemacht hast? Kannst du dir verzeihen?
Würde ist aus meiner Sicht, also wenn wir den Begriff von der abstrakten Ebene des Gesetzes in unseren Alltag holen, dann ist Würde eher ein Verb. Es ist eine Handlungsaufforderung, ein Prozess: Es geht darum, andere Menschen und uns selbst zu respektieren. Und zwar als die Person, die sie ist, als die Person, die ich bin. Mit allem was dazu gehört. Dem was ich mag und dem was ich nicht so sehr mag. In diesem Verständnis ist Würde keine Eigenschaft, sondern sagt etwas über die Qualität unserer Beziehungen. Das meint, wir können nur auf Basis von Würde gelingende Beziehungen gestalten. Also wenn deine Beziehung nicht so ist, wie du sie gerne hättest, dann frage dich, wie ihr miteinander umgeht. Eher akzeptierend, verzeihend, liebend oder eher kritisierend, fordernd, nebeneinanderher? So wie du Beziehung leben willst oder so wie du dich der Beziehung angepasst hast oder ihr beide euch angepasst habt?
Warum ist die Auseinandersetzung mit dem Wert Würde für früh traumatisierte Menschen besonders wichtig?
Im Zusammenhang mit Kindheitstraumata – Entwicklungstrauma oder Bindungstrauma – passiert es häufig, dass dieses instinktive Wissen über die eigene Würde, den eigenen Wert in uns verloren geht. Ein Säugling Es bedeutet, dass ich, durch den achtlosen, gewalttätigen oder wie auch immer schädigenden Umgang mit mir, die Gewissheit verliere, dass ich so wie ich bin gut bin. Vielleicht habe ich gelernt, dass ich mich anpassen muss, dass es nicht ok ist, so zu leben, wie ich es will. Im schlimmsten Fall spreche ich mir das Recht ab, da zu sein, zu existieren. Einfach deshalb, weil ich so aufgewachsen bin. Vielleicht wurden meine Bedürfnisse nie wahrgenommen oder vielleicht bin ich in dem Bewusstsein aufgewachsen, nicht gewollt zu sein, ein Störfaktor zu sein, zu laut, zu leise, zu dick, zu schwach, zu unangepasst, what ever.
Nicht selten übernehmen wir, als Überlebensstrategie, diese Sichtweise auf uns und das geht zu Lasten unserer Würde. Weil sie so oft missachtet oder verletzt wurde, gehen wir selbst mit uns häufig so um, wie wir es als Kinder gelernt haben. Wir tragen also auch im erwachsenen Alter noch die verletzten Kinder-Anteile in uns und trauen uns nicht, das von außen über uns erlernte in Frage zu stellen. Deshalb zieht sich das Thema Entwürdigung häufig wie ein roter Faden durch das Leben früh traumatisierter Menschen.
Was passiert, wenn wir das Bewusstsein für unsere Würde und damit auch für die Würde anderer Menschen verlieren?
Es passiert das, was Dr. Gerald Hüther beschreibt: wir machen uns und unser Gegenüber zu einem Objekt. Kinder entwickeln Überlebensstrategien, um die Entwürdigung zu überleben. Dabei spalten sie das Gefühl für die eigene Würde, den eigenen Wert ab. Damit wird aber auch die eigene Reaktion auf den Schutz unserer Würde abgespalten. Ein Kind welches in einer toxischen, missachtenden oder missbrauchenden Umgebung aufwächst, kann sich nicht gegen die Verletzung der eigenen Würde auflehnen. Es ist von den Menschen abhängig, die sich ihm und somit sich selbst gegenüber würdelos verhalten. Sich dagegen zu wehren, kann die eigene Existenz bedrohen (2020 wurden in Deutschland 152 Kinder getötet)
Kinder spüren das und sind deswegen bereit, sich würdelos zu verhalten und das unwürdige Verhalten anderer hinzunehmen. Hinzu kommt, dass eines der wirkungsvollsten Mittel einem anderen Menschen seine Würde zu nehmen, die Beschämung ist. Jedes „Du bist zu…“ „Dir fehlt…“ zielt auf die Identität eines Menschen und damit auf seinen Wert. Heißt, wenn ich die Außensicht auf mich als Identität annehme, dann verliere ich die Verbindung zu mir selbst und damit auch das Vertrauen in mich und die Welt.
Welche langfristigen Auswirkungen hat dies für früh traumatisierte Menschen?
Das hat langfristig Auswirkungen auf unsere weitere Lebens- und Beziehungsgestaltung. Weil wir als Kind entschieden haben (um unser Überleben zu sichern), die Entwürdigungen hinzunehmen und als Haltung vielleicht übernommen haben, dass wir es ja nicht anders verdient hätten, bleiben wir oft auch als Erwachsene in einem Abhängigkeitsverhältnis. Wir bedienen weiterhin die Schutzmuster, welche in der Kindheit notwendig, im Erwachsenenalter aber eher behindernd sind. Wir haben gelernt, das Gefühl für unsere Würde, unseren Wert abzuspalten und damit haben wir auch verlernt, unsere Würde zu schützen.
In der Konsequenz machen wir uns abhängig von den Bewertungen und dem Zuspruch von außen. Abhängig von der Zuwendung, Liebe, Bestätigung im Außen. Wir kompensieren den Mangel an Selbstwert mit Leistungsdenken, Perfektionismus, der Suche (Sucht) nach Anerkennung und dafür sind wir, wie in unserer Kindheit bereit, uns zu verbiegen. Oder wie Verena König es ausdrückt: „wir verbergen uns oder unterwerfen uns oder ziehen uns von anderen zurück“. Weil wir uns nicht zeigen, wie wir wirklich sind – vielleicht wir es sogar vergessen oder es nie herausfinden konnten – bleiben wir in den kindlichen Gefühlen des Nicht-dazu-Gehörens, des irgendwie Falsch-Seins stecken und fühlen uns häufig schuldig aufgrund unseres So-Seins.
Warum ich glaube, dass im gefühlten Bewusstsein über die eigene Würde die größte Heilungschance für in der Kindheit traumatisierte Menschen liegt
Wenn ich in mir ein Gefühl dafür entwickle, also weiß, dass ich wertvoll bin, so wie ich bin, dann kann die Beschämung mit der andere mir begegnen, an mir abprallen. Es ist ihre Meinung über mich, aber ich bin nicht die Meinung, das Bild eines anderen Menschen, ich bin ich. Wenn ich zu mir stehen kann, egal, wie ich gerade aussehe, bin oder welchen Fehler ich gemacht habe, wenn ich um meinen Wert weiß, dann weiß ich in der Regel auch, dass der andere einen Wert hat, dass alles Lebendige einen Wert hat. Wenn ich achtungsvoll mit mir umgehe, werde ich auch achtungsvoll mit anderen umgehen. Ich muss mich nicht mehr verbergen, um mich vor Verletzungen zu schützen, muss mich nicht zurückziehen, unterwerfen, vermeiden was andere stören könnte oder gefällig sein, um geliebt zu werden.
Wenn ich meinen Wert kenne und achte, kann ich auch mit meiner Bedürftigkeit anders umgehen, muss nicht mehr um etwas betteln (Liebe, Anerkennung) und als Preis dafür meine Würde opfern. Wichtig dafür ist die Entwicklung einer Vorstellung von deiner eigenen Würde, einer Vorstellung als der Person, die du sein willst. Diese innere Instanz kann dir künftig als Kompass dienen. Verhalte ich mich so, wie sich meine Idealvorstellung von mir verhalten würde? Lasse ich mich so behandeln, wie es hilfreich und wachstumsfördernd für mich und mein Gegenüber ist? Mit diesem Idealbild von mir als Gratmesser für mein Verhalten, meine Haltungen und den eigenen Umgang mit mir, achte ich auf die Einhaltung der Grenzen meiner Würde und bin bemüht um die Einhaltung der Grenzen deiner Würde.
5 Tipps, deine Würde wieder herzustellen
Nimm diese Tipps als Experiment. Es gibt kein richtig und kein falsch. Beobachte dich auf wohlwollende und achtsame Weise, ohne dich zu bewerten. Akzeptiere was ist, ohne gleich etwas ändern zu wollen. Übe dich in Geduld. Dies ist ein Prozess, eine spannende Reise. Mach dir immer wieder bewusst, du bist auf diese Reise gegangen, um dich kennenzulernen und weil du willst, dass sich in deinem Leben etwas grundlegend ändert: Du bist auf dem Weg, dir deine Würde wieder zu holen und das erreichst du nicht über den Weg, dich selbst negativ zu bewerten.
- Prüfe: Was oder wer umgibt dich? Wann wird deine Würde missachtet? In welchen Situationen wertest du dich selbst ab? Wann und wo machst du dich oder andere Menschen zum Objekt? Welche inneren Anteile, Eigenschaften oder Körperlichkeit machst du zu Objekten, indem du sie abwertest oder nicht haben willst?
- Decke deine Glaubenssätze, deine inneren Überzeugungen auf. Was denkst du über dich, die Menschen, die dich umgeben? Was denkst du über deinen Job, über die Welt, über deine Zukunft? Ist dass, was du denkst, wirklich dass, was du denkst oder hast du es von anderen übernommen?
- Wo und wann, in welchen Begegnungen mangelt es dir an Selbstachtung? In welchen Situationen wertest du dich selbst ab? Jede Selbstabwertung ist eine Missachtung der eigenen Würde. Wenn es dir passiert: notiere dir wann, warum und in wessen Gegenwart passiert es dir. Einfach nur aufnehmen. Auch hier – das Wichtigste und vielleicht Schwierigste: bewerte dich nicht dafür.
- Wie gehst du mit deinem Körper um? Wie ernährst du dich, wie erholst du dich? Kannst du deinen Körper annehmen oder was denkst du über ihn? Achte auf deine Körperhaltung – wann verlierst du deine aufrechte Haltung? Welche Situationen sind das?
- Achte auf deine Emotionen. Wann, in welcher Situation tritt welche Emotion auf? Wie bewertest du ihr Auftreten? Was denkst du über diese Emotion?
Im nächsten Schritt kannst du aus dem bisher erworbenen Wissen dein Idealbild entwerfen. Was willst du behalten und was möchtest du nicht mehr in deinem Leben haben. Bedenke bitte immer, Rückschritte gehören dazu und jede negative Selbstbewertung bringt dich von deinem Ziel weiter weg. Außer du akzeptierst, dass du diesen Rückschritt gegangen bist und weißt, du wirst in Zukunft darauf achten, wann du in Versuchung gerätst, die alten Muster zu bedienen.
Ins Kleid des Lebens Würde weben
Mein Leitsatz: Ins Kleid des Lebens Würde weben, hat sehr viel mit all diesen kleinen Schritten zu tun, die wir gehen können, um die eigene Würde wieder fühlen und auf den Schutz unserer Grenzen achten zu können.
Das Weben ist eine Handlung und genau das ist es, was ein Leben in Würde letztendlich bedeutet: So zu handeln, dass es für mich, die Menschen um mich herum und somit auch für die Welt gut ist. Aus meiner Sicht, das Wichtigste was wir für uns und unsere Welt tun können. Ist das anstrengend? Im übertragenen Sinne: wenn du bisher noch nicht weben kannst, es aber lernen willst, musst du Zeit und Energie aufwenden, um es zu erlernen. Du wirst so manchen Knoten an Stellen weben, wo er das Gesamtbild stört. Aber wenn du dranbleibst und übst, und übst, und übst, dann wirst du es eines Tages so weben können, als hättest du nie etwas anderes getan. Dann geht es um Verfeinerung und Kunstfertigkeit, und dann sind deiner Kreativität keine Grenzen mehr gesetzt.
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