Gewalt in der Familie: Kontakt abbrechen oder halten – 20 Fragen

Kontakt abbrechen oder halten, ist eine in unserer Gesellschaft moralisch sehr aufgeladene Frage. Die Frage, wie gehe ich mit meinen Eltern um, wie könnte ich den Kontakt zu ihnen besser gestalten, stellen sich vermutlich viele Menschen im Lauf ihres Lebens. Für Menschen, die innerfamiliär Gewalt erlitten haben, heißt die Frage viel häufiger: darf ich den Kontakt zur Familie abbrechen oder sollte ich das lieber nicht? Nicht selten trauen sich die Betroffenen gar nicht erst, über diese Frage nachzudenken, beeinflusst von den Bedenken und Moralvorstellungen anderer Menschen. Doch diese Entscheidung kann und darf dir niemand abnehmen. Es steht ausschließlich dir zu, darüber zu entscheiden, mit wem du welche Art von Kontakt haben möchtest. Warum das so ist, erfährst du hier.

Es ist wichtig, dir im Vorfeld deiner Entscheidung ein paar Fragen zu stellen, und bei deren Beantwortung ehrlich mit dir selbst zu sein. Denn nur dann wirst du dich deiner Entscheidung mit größerer innerer Sicherheit nähern. Diese Sicherheit ist wichtig, weil sie dir als Orientierungshilfe in Stunden des Zweifels dient. Mit diesem Artikel gebe ich dir ein paar Fragen, die dir als Entscheidungshilfe dienen können.

Kontakt abbrechen oder halten – darum fragst du dich

Vielleicht gibt es Menschen in deinem Umfeld, die dir dazu raten, den Kontakt zu deiner Familie abzubrechen, während andere dir sagen, du darfst auf keinen Fall den Kontakt abbrechen. Was beide Seiten vergessen: Trauma und Traumaverarbeitungsstrategien sind individuell. Was der einen hilft, verstört den anderen. Du kannst nur den eigenen Weg finden.
Menschen, die im Kindes- und Jugendalter innerhalb der Familie unter Gewalt gelitten haben, tragen meist seelische Narben davon, bei manchen sind es auch offene Wunden. Dann wirst du erwachsen und siehst dich mit Anforderungen konfrontiert. Anforderungen, die das Leben an dich stellt. Diese unterscheiden sich nicht von denen, die es an Menschen stellt, die ohne diese Erfahrungen aufwuchsen. Auch du musst dich entscheiden, wie du leben willst. Welche berufliche Laufbahn wirst du nehmen? Welche Art der Beziehungen wünschst du einzugehen. Es ist die Frage nach der Art des Lebens, welches du führen willst. Alles wichtige Fragen und jede für sich genommen eine Herausforderung. Nur wie kannst du diese Herausforderungen gut bewältigen, wenn du als Kind oder Jugendliche nie gelernt hast,

    • was deine eigenen Bedürfnisse sind, weil jedes Anzeichen eines Bedürfnisses ignoriert und bestraft wurde,
    • wie Vertrauen geht, weil deine Grenzen permanent übertreten und ignoriert wurden und du nicht behütet und geschützt wurdest,
    • welche anderen Lebensformen es gibt, jenseits einer destruktiven Familie, wenn du nur diese kennst,
    • dein Nervensystem und deine Emotionen verrückt spielen, weil du immer noch im Überlebensmuster feststeckst,
    • du nicht gelernt hast, mit Konflikten anders umzugehen, als zu flüchten, zu kämpfen oder komplett abzuschalten?

Wenn du dich auf den Weg machst, dein Trauma zu heilen, alte, nicht mehr funktionierende Muster zu lösen, kann es sein, dass deine Familie dich unterstützt. Vielleicht aber fühlt sie sich bedroht von dem Weg, den du für dich eingeschlagen hast. Spätestens dann fragst du dich „Gehen oder bleiben“.

Kontakt zur Familie abbrechen oder bleiben – Ein paar Fragen als Entscheidungshilfe

    1. Wie beeinflusst der Kontakt zu meiner Familie mein tägliches Wohlbefinden?
      Fühle ich mich sicher und unterstützt oder erlebe ich Stress und Angst?
    2. Welche spezifischen Interaktionen oder Muster in der Beziehung zu meiner Familie belasten mich besonders?
      Gibt es bestimmte Verhaltensweisen oder Ereignisse, die regelmäßig negative Gefühle oder Reaktionen auslösen?
    3. Wie reagiert meine Familie, wenn ich meine Bedürfnisse und Grenzen ausdrücke?
      Werden meine Gefühle respektiert und ernst genommen oder ignoriert und abgewertet?
    4. Gibt es Möglichkeiten, gesunde Grenzen zu setzen, und wie hat meine Familie darauf reagiert?
      Kann ich effektive Grenzen setzen, und hilft das, die Beziehung zu verbessern?
    5. Wie sieht meine ideale Beziehung zu meiner Familie aus, und ist es realistisch, dass sich die aktuelle Situation in diese Richtung entwickeln kann?
      Was müsste sich ändern, und wie wahrscheinlich ist es, dass diese Änderungen eintreten?
    6. Welche Unterstützung habe ich außerhalb meiner Familie?
      Wer kann mir emotionale Unterstützung bieten, wenn ich den Kontakt zu meiner Familie einschränke oder abbreche?
    7. Was sind die potenziellen kurz- und langfristigen Auswirkungen eines Kontaktabbruchs auf andere Beteiligte und mich?
      Wie könnte dieser Schritt mein Leben und das Leben anderer beeinflussen?
    8. Habe ich andere Strategien ausprobiert, um die Beziehung zu verbessern, und wie erfolgreich waren diese?
      Welche Interventionen (wie Therapie, Mediation) habe ich versucht, und was war das Ergebnis?
    9. Wie würde ich mich ohne den Einfluss dieser familiären Beziehungen sehen?
      Wie würde ich mich fühlen, und wie würde mein Leben aussehen, wenn ich den Kontakt abbreche?
    10. Was würde es für mein zukünftiges Ich bedeuten, wenn ich jetzt die Entscheidung treffe, den Kontakt abzubrechen oder aufrechtzuerhalten?
      Wie würde ich in fünf Jahren auf diese Entscheidung zurückblicken?

Kontakt abbrechen - Zitat: Es gibt Menschen, die dich vergiften können. Einfach indem sie anwesend sind, erlauben sie dir nicht, dein bestes Selbst zu sein. (Mandy Hale)

    1. Welche Werte sind mir in Beziehungen am wichtigsten und werden diese Werte in meiner Beziehung zur Familie respektiert?
      Wie priorisiere ich Werte wie Ehrlichkeit, Respekt, Sicherheit und Unterstützung in meinen familiären Beziehungen?
    2. Wie hat sich meine Gesundheit (sowohl physisch als auch psychisch) durch die Beziehung zu meiner Familie verändert?
      Gibt es gesundheitliche Probleme, die durch Stress, Konflikte oder Traumata in der Familie verschlimmert werden?
    3. Welche konkreten Veränderungen oder Maßnahmen würde ich benötigen, um eine gesunde Beziehung zur Familie zu pflegen?
      Sind diese Veränderungen abhängig von mir oder erfordern sie die aktive Mitwirkung anderer Familienmitglieder?
    4. Wie reagiere ich emotional und physisch, wenn ich an Treffen oder Gespräche mit meiner Familie denke?
      Verursacht der Gedanke an Interaktionen mit der Familie Angst, Widerwillen oder andere starke emotionale Reaktionen?
    5. Habe ich alle verfügbaren Ressourcen und Strategien ausgeschöpft, um die Beziehung zu verbessern, oder gibt es noch ungenutzte Optionen?
      Welche Beratungs- oder Unterstützungsangebote könnte ich noch in Betracht ziehen?
    6. Welche Auswirkungen hätte ein Kontaktabbruch auf andere Beziehungen, die ich schätze?
      Wie könnten Entscheidungen bezüglich meiner Familie meine Beziehungen zu Freunden, Partnern oder meinen eigenen Kindern beeinflussen?
    7. Gibt es historische oder wiederkehrende Muster in meiner Familie, die meine Entscheidung beeinflussen sollten?
      Wie haben frühere Generationen ähnliche Herausforderungen gehandhabt, und gibt es Lektionen, die ich daraus lernen kann?
    8. Welche Hoffnungen und Erwartungen habe ich an meine Familie, und sind diese realistisch?
      Wie wahrscheinlich ist es, dass sich meine Hoffnungen und Erwartungen erfüllen?
    9. Wie definiere ich „Familie“? Muss Familie immer durch biologische oder rechtliche Bande definiert werden, oder könnte ich eine Wahl-Familie schaffen, die besser zu meinen Bedürfnissen passt?
      Kann ich mir ein Unterstützungsnetzwerk aufbauen, das aus Nicht-Verwandten besteht, die meine Werte teilen und mich respektieren?
    10. Wie viel meiner Identität und meines Selbstwertgefühls ist durch meine familiären Beziehungen bestimmt?
      Würde ein Kontaktabbruch mir helfen, ein stärkeres Gefühl für mein eigenes Selbst zu entwickeln?

Kontakt abbrechen - Zitat: Manchmal musst du dich von Menschen trennen, die du liebst, um die richtige Liebe zu dir selbst zu finden. (Sonya Parker)

Worauf du bei der Arbeit mit diesen Fragen achten solltest

Ich bin mir sehr bewusst, dass diese 20 Fragen es in sich haben und du vermutlich eine schnelle Lösung für dich finden möchtest. Dennoch bitte ich dich, hab Geduld. Je intensiver du dich mit den Fragen auseinandersetzt und je ehrlicher du deine Antworten findest, desto klarer wird sich dein Weg zeigen. Mit ehrlich meine ich ungeschönte Antworten, lass dir nicht von deinem Kopf erzählen, warum etwas so ist, wie es ist. Das Warum sollte bei dieser Entscheidung keine Rolle spielen. Wesentlicher ist das Wie. Wie ist es für dich, wie empfindest du es wirklich? Es kann sein, dass die Fragen dich aufwühlen. Bitte sorge für dich. Begegne dir selbst mit Wohlwollen und Verständnis. Mach Pausen, reguliere dich, wenn die Emotionen dich überrollen. Tröste dich oder bitte andere, denen du vertraust um eine tröstende Umarmung.

Jede:r hat ein unterschiedliches Tempo bei der Bearbeitung der Fragen. Für die eine ist es gut, sich jeden Tag damit zu beschäftigen, für den anderen reicht dies einmal in der Woche. Egal, wie dein Tempo ist, achte darauf, dass du dich nicht überforderst. Es macht überhaupt keinen Sinn, dich mit Eile durch das Thema zu treiben, dich selbst dabei zu triggern und zu dissoziieren. Meine Empfehlung ist: nicht mehr als 2 bis 3 Fragen auf einmal zu beantworten. Sorge im Vorfeld deiner Beschäftigung mit den Fragen für eine Wohlfühlatmosphäre. Du hast einen Lieblingsplatz in der Natur oder bei dir zu Hause? Arbeite dort an den Fragen. Du nutzt gern Duftöle, Kerzenschein, Kuscheldecke oder hast einen Handschmeichler, der dir ein gutes Gefühl gibt? Bau so viel stärkende und gute Energie um dich herum, wie möglich ist, das gibt dir hoffentlich ein klein wenig das Gefühl von Sicherheit.

Die Sache mit der Hoffnung

Es hat lange gebraucht in meinem Leben, bis ich akzeptiert habe, dass ich von meinen Eltern weder die Anerkennung noch die Liebe bekomme, nach der ich mich so sehr sehnte. Selbst nach dem Kontaktabbruch vor 35 Jahren hoffte ein Teil in mir, dass sie den Kontakt zu mir aufnehmen. Dass sie verstehen, was ich so schmerzlich vermisst habe und ja, ich hoffte auch, dass sie sich entschuldigen. So entschuldigen, dass ich es annehmen und akzeptieren kann. Dass sie die Dimension dessen, was sie mir angetan haben, erkennen und es ihnen aufrichtig leidtut. Darauf zu warten und zu hoffen habe ich mir abgewöhnt, aber es bleibt ein Schmerz, auch wenn er inzwischen sehr blass in mir schlummert, er ist da und begleitet mich. Ich habe gelernt, mit ihm zu leben. – Sylvia Tornau

Solltest du diese Hoffnung ebenfalls in dir tragen und genau aus diesem Grund lieber im Kontakt bleiben, bedenke bitte, dass sich mit jeder Begegnung, in der sich deine Hoffnung nicht erfüllt, die Verletzung und Enttäuschung fortsetzt. Es ist, als würdest du freiwillig jedes Mal aufs Neue die Wunde öffnen und vertiefen. Du musst nicht zwangsläufig den Kontakt abbrechen, aber es ist wichtig, dass du dir deiner Erwartung und Hoffnung bewusst wirst und diese loslässt. Denn aus langjähriger therapeutischer Erfahrung kann ich dir sagen, dass sich diese Hoffnung fast nie erfüllt. Tut dir der Kontakt zur Familie gut, wenn du diese Hoffnung beiseitelässt, oder wirst du immer wieder neu verletzt? Das sind Fragen, die aus meiner Sicht für deine Entscheidungsfindung wichtig sind.

Egal, wie du dich entscheidest, wenn du bei deiner Entscheidung deine Intuition, dein Wohlbefinden und deine Ressourcen im Blick behältst, wird es die richtige Entscheidung sein. Ich wünsche dir viel Kraft, Mut und Vertrauen in dich.

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Herzliche Grüße

2 Kommentare

  1. Sylvia Tornau 29. April 2024 um 21:16 Uhr

    Liebe Marianne, vielen Dank für deine aufbauenden Worte. Das tut gut, auf diesem Weg Unterstützung zu erfahren. Herzliche Grüße Sylvia

  2. Marianne Kewitsch 29. April 2024 um 13:02 Uhr

    Liebe Sylvia
    Mir gefällt deine so sensible Art zu schreiben! Danke für dein Sein, denn du wirst noch vielen Menschen helfen können, den nächsten Schritt zu erkennen und tun zu können. Der Satz: „Du kannst nur deinen eigenen Weg finden“ gefällt mir besonders gut. Im ganzen Artikel wird die Wichtigkeit des EIGENEN Weges deutlich.
    Alles Liebe Marianne

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Hallo, ich bin Sylvia

systemische Therapeutin, Trauma-Coach und Bloggerin. Seit über 20 Jahren arbeite ich mit Paaren, Familien und Einzelpersonen daran, negative Kindheitsprägungen und frühe Traumata zu lösen und ein Leben voller Selbstvertrauen, innerem Frieden und emotionaler Stabilität zu führen.
Für ein erfülltes Leben in Verbundenheit.

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