Vergebung, Selbstliebe und Co - Was mich an Coachingschlagwörtern nervt

Manchmal bin ich im Gespräch mit anderen Menschen ziemlich genervt. Es sind Menschen, mit denen ich mich in einer gemeinsamen Blase befinde, der Blase der Persönlichkeitsentwicklung. Genervt bin ich von den Schlagwörtern dieser Branche, von Vergebung, Selbstliebe und Co. Persönlichkeitsentwicklung halte ich im Grunde für eine gute Sache, wenn sie mir dient und mir hilft, die Dinge anders zu sehen und zu verstehen. Hilfreich ist sie dann, wenn ich mich dadurch besser in der Welt zurechtfinde, wenn ich besser mit meinen Emotionen und Gedanken umgehen kann. Macht mich das zu einem „besseren“ Menschen? Das interessiert mich nicht. Mich interessiert, ob ich einen anderen, besseren Umgang, mit Herausforderungen habe. Ob ich mit anderen Menschen in Verbindung bleiben kann, auch wenn es mal heftig kracht zwischen uns.

Fakt ist, ich bin ein Teil dieser Blase, als Coach und als Coachee und das bin ich meistens ziemlich gern. Bis eben auf die Momente, in denen ich genervt bin.

Schlaue Sätze, die an der Oberfläche kratzen

Prinzipiell nervt mich die Oberflächlichkeit, zu der ich auch gelegentlich neige. Oberflächlichkeit im Sinne von schöne Sätze wiederkäuen, ohne ihnen eine eigene Bedeutung zu geben. Es scheint z.B. gerade Mode zu sein, dass über das Gesetz der Anziehung zu sprechen, in der Vergebung eine Art Allheilmittel zu sehen, dass mich von allem, was es in der Vergangenheit an Negativem gab, befreit. Im Bereich der Selbstliebe ist es der Satz: „Erst wenn du dich selbst liebst, können auch andere dich lieben“.

All diese Sätze können auch als Waffe missbraucht werden, um mein Gegenüber zu demontieren und mich selbst zu erhöhen. Ich zeige das im Folgenden anhand von drei Beispielen.

„Du lebst das Leben, welches du dir ausgesucht hast!“

Dieser Satz stammt aus dem weiten Feld der Gesetze der Anziehung. Es gibt Menschen, die so weit gehen zu behaupten, dass wir uns schon vor der Geburt die Familie ausgesucht haben, in der wir dann als Kind leben. Oder dass das „Karma“ vergangener Leben uns dorthin geführt hat, damit wir aus den Herausforderungen für ein nächstes Leben lernen. Ehrlich, ich weiß nicht, ob es so etwas wie Karma gibt, ob ich schon einmal gelebt habe. Es interessiert mich auch nicht, denn ich lebe heute und dieses Leben heute gut zu gestalten, für mich und andere zu einem guten Leben zu machen, das ist Herausforderung genug.

Diese Sätze sind ein Schlag ins Gesicht all jener Menschen, die eine herausfordernde Kindheit hatten. Die in ihrer Kindheit gelitten haben, traumatisiert wurden – egal ob absichtlich oder aus Unwissenheit. Diese Sätze sind bequem für all jene, die sich sonst damit beschäftigen müssten, wie Kinder in unserer Gesellschaft behandelt werden. Die meisten wachsen zum Glück behütet und geliebt auf. Doch es gibt noch viel zu viele Kinder, für die das nicht zutrifft, deren Rechte in den Familien mit Füßen getreten werden. In Deutschland stehen die Elternrechte noch immer weit über den Rechten der Kinder. Doch diese verletzten Seelen werden auch erwachsen und es ist zynisch dann zu sagen: „Das hast du dir doch ausgesucht!“.

Was bedeutet das in der Konsequenz?

Im Grunde heißt das, komm damit klar, was dir passiert ist, es interessiert mich nicht. Es ist eine Zurückweisung, vielleicht ein Selbstschutz, doch es reduziert den Menschen mit der herausfordernden Kindheit auf diese Kindheit und macht zu einem privaten Problem, was eigentlich ein gesellschaftliches ist. Die Folgen von Gewalt und Missbrauch müssen ausschließlich die Menschen tragen, die davon in ihrer Kindheit betroffen waren und die meisten von ihnen finde Wege, diese Geschichte zu integrieren und trotzdem ein erfülltes Leben zu führen. Solche Sprüche aber sind nicht hilfreich auf diesem Weg, sondern aus meiner Sicht im schlimmsten Fall eine andere Form von Gewalt und im besten Fall entspringen sie einfach nur einer Haltung der Ignoranz.

Nur wenn du vergibst, kannst du heilen

Diesen Satz finde ich persönlich sehr problematisch. In vielen Fällen wird er benutzt, mit Blick auf die Täter:innen. Ich soll die Tat vergeben und erst, wenn ich dazu in der Lage bin, gelte ich als geheilt. Wirklich? Bin ich dann geheilt oder verschaffe ich dem Täter, der Täterin ein gutes Gewissen? Sozusagen Schwamm drüber, jetzt gehen wir zur Tagesordnung über. Zur Tagesordnung gehört dann aber auch, dass das leidige Thema nicht mehr angesprochen werden darf. Wenn ich es doch wieder anspreche, dann habe ich ja gar nicht richtig vergeben. Problematisch finde ich dies, weil die Opfer – und Menschen, die in ihrer Kindheit Gewalt erfahren haben, waren im Moment der Gewalt Opfer – häufig, als Kind nicht über die Gewalt sprechen durften. Wenn sie nun, als Erwachsene im familiären Rahmen vergeben, dürfen sie wieder nicht darüber sprechen. Das Tabu aus der Kindheit lebt weiter.

Genauer finde ich da schon die Definition auf Wikipedia. „Vergebung ist die Überwindung negativer Gefühle und Einstellungen gegenüber einer Person, von der man verletzt wurde.“ Diese Definition zeigt, dass ich, wenn ich verletzt wurde, eine Menge Arbeit vor mir habe, um einen Umgang mit der Verletzung zu finden. Hier hat der Umgang allerdings schon mehr mit mir zu tun und richtet sich allerdings noch immer auf den Täter, die Täterin. Es geht um meine negativen Gefühle und Einstellungen gegenüber der Person, von der ich verletzt wurde.

Bei mir persönlich führte das damals, als ich dachte, ich müsse diese Form der Vergebung leisten, um geheilt zu werden (auf Anraten einer Psychotherapeutin), dazu, dass ich den Weg meines Vaters vom Kind zum jungen Erwachsenen (er war 21 oder 22 Jahre alt, als ich auf die Welt kam) nachzeichnete und ich so viel Mitgefühl für diesen kleinen Jungen in mir spürte, dass das, was mir der junge Erwachsene antat, in den Hintergrund geriet. Im Ergebnis wurde ich depressiv, weil ich ja so viel Verständnis hatte, dass ich gar nicht mehr wütend sein konnte.

Es gibt nur eine Art der Vergebung, die wirklich heilsam ist

Aus meiner persönlichen Erfahrung und auch aus meiner Erfahrung als Therapeutin kann ich heute sagen, dass zumindest beim Thema sexuelle Gewalt eine Art der Vergebung wirklich eine große Rolle spielt. Allerdings nur diese Art der Vergebung: ich vergebe mir selbst, dass ich

  • mich als Kind nicht wehren konnte.
  • mich hilflos und ohnmächtig gefühlt habe, weil ich ein Kind war.
  • immer noch lebe, weil all meine Suizidversuche gescheitert sind, die nur ein Ziel hatten: der Situation zu entkommen.
  • den einzigen Ausweg in zahlreichen Suizidversuchen sah, weil mir mein Leben damals so sinnlos erschien.
  • den Menschen, die mir das Gefühl gaben, nichts wert zu sein, geglaubt habe, weil ich auf sie angewiesen war.
  • die Schuld an dem, was passiert ist, bei mir gesucht habe.
  • als Kind geschwiegen habe.

Erst wenn du dich selbst liebst, können andere dich lieben

Diesen Spruch finde ich, offen gestanden, ziemlich gruselig, wenn er so pur kommt. Zum einen, weil das schon wieder Arbeit impliziert. Ich bin ein bequemer Mensch und habe keine Lust ständig zu arbeiten (grins). Zum anderen, weil dann elterliche Liebe gar nicht existieren dürfte. Ok, das lässt sich, zumindest in den ersten Monaten hormonell begründen: wenn Babys auf die Welt kommen, spielen bei den meisten Eltern die Hormone verrückt. Aber im Ernst, wodurch lernt ein Kind denn sich selbst zu lieben? Dadurch, dass es so angenommen wird, wie es ist. Ich liebe mein Kind auch dann, wenn es Wege geht, die ich fragwürdig, merkwürdig oder gar falsch finde. Diese Wege stelle ich vielleicht infrage, nicht aber mein Kind in seinem Sein. Heißt, im besten Falle werde ich geboren und geliebt, ganz ohne irgendetwas dafür getan zu haben.

Das allein widerlegt ja schon die These, andere könnten mich nur dann lieben, wenn ich mich selbst liebe. Ich muss nicht erst etwas dafür tun oder leisten, ich darf auch einfach so geliebt werden, allein für die Tatsache, dass es mich gibt.

Dazu kommt aus meiner Sicht auch noch der Punkt, dass nach diesem Satz Liebe Bedingungen unterworfen ist. Jemand muss erst auf eine undefinierbare Art und Weise sein, um geliebt zu werden. Mag sein, dass ich an dieser Stelle zu romantisch oder naiv oder was auch immer bin, aber Liebe, die auf Bedingungen basiert, ist für mich keine Liebe, sondern ein Handel. Dann erfülle ich, indem ich mich selbst liebe, die Bedingungen für diesen Handel. Das ist dann nicht mehr uneigennützig und hat mit Liebe nur noch wenig zu tun. Das ist dann eher Eigenliebe als Selbstliebe. Es ist das Bestreben, mir selbst Liebe zukommen zu lassen, wie eine Handelsware auf dem Liebesmarkt.

Vergebung, Selbstliebe und Co - Was mich an Coachingschlagwörtern nervt

Bin ich schön genug? Bin ich attraktiv genug? Bewunderst du mich? – All diese Fragen stellt sich ein Mensch, der sich selbst liebt nicht.

Keine Frage, Selbstliebe ist etwas sehr Wertvolles

Das, was wir Selbstliebe nennen, ist im Grunde eher die Kompetenz des Selbstwertes. Der Selbstwert liegt in der Balance zwischen dem Sich-selbst-Mögen und dem Sich-kompetent-Fühlen. Das ist es, was sich hinter dem Begriff der Selbstliebe verbirgt. Ein Mensch, der sich selbst liebt, akzeptiert sich so wie er/sie ist, in allen Facetten. Dieser Mensch mag sich, wenn er/sie sich als kompetent empfindet, aber auch, wenn das mal nicht so ist. Es ist ein Bewusstsein vorhanden für das eigene Können/Nicht-können und eine wohlwollende Akzeptanz: also ich kann richtig gut Matheaufgaben lösen, aber einkaufen gehen, kann ich nicht so gut, ich vergesse immer die Hälfte. Das ist nicht schön, aber ich mag mich trotzdem. Ich mag mich auch dann, wenn andere mich nicht für das, was ich leiste, bejubeln. Ich weiß ja, dass ich grundsätzlich in Ordnung bin, auch wenn ich manche Dinge nicht so gut kann wie andere.

Keine Frage, wenn ich auf diese Weise mit mir gut bin, dann bin ich das meist auch mit anderen. Weil ich dann die Haltung in mir habe, wenn ich ok bin, wirst du wohl auch ok sein. Mit dieser Haltung lade ich andere dazu ein, auch gut mit sich und mit mir zu sein. Das ist aber weder eine Bedingung noch eine Voraussetzung, denn ich weiß ja, auch wenn du gerade nicht gut mit mir kannst, ich bin trotzdem ok und du bist es auch. Wir verstehen uns nur gerade nicht.

Es darum, den eigenen Weg zu finden

All diese Sätze haben also durchaus einen Kern, mit dem ich etwas anfangen kann, doch diesen Kern darf ich für mich finden, wenn ich das will. Selbst wenn ich das will, darf ich berücksichtigen, dass dieser Kern für jede Person ein wenig anders aussieht, sich anders anfühlt. Es kommt auf die eigene Geschichte an, auf die eigene Weltwahrnehmung und es kommt auch darauf an, ob ich überhaupt jemand bin, deren Weg zur Erkenntnis über Worte führt. Vielleicht gehe ich lieber den Weg von Versuch und Irrtum. Ist das dann ein Umweg? Nur, wenn ich es selbst so bewerte.

Wie du an diesem Beitrag merkst, ich bin sehr wohl jemand, die auf Worte achtet und manchmal sogar etwas penibel. Wie geht es dir mit diesen Sätzen? Was lösen sie in dir aus? Schreib es gern in die Kommentare.

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