Brief an Dein inneres Kind

Einen Brief an das innere Kind schreiben? Allein die Bezeichnung „inneres Kind“ wirkt für viele Menschen abschreckend. Warum das so ist, erkläre ich in dem Beitrag „Innere-Kind-Arbeit (nichts?) für Kopfmenschen„. Die Bubble der Coaches und Therapeutinnen ist bei diesem Thema auch sehr gespalten. Es gibt viele Stimmen, die sagen, ein inneres Kind gibt es nicht. Was soll ich sagen, das stimmt. In niemandem von uns lebt ein inneres Kind. Was aber sehr lebendig in vielen von uns ist, sind die Muster, die sich in unserer Kindheit, Jugend und im Verlauf des Lebens entwickelt haben. Muster, die deine Handlungen, dein Denken und deine Wahrnehmungen bis heute beeinflussen. Das „innere Kind“ ist für mich ein Modell, ein Vehikel, um diesen Mustern auf die Spur zu kommen.

Es geht für mich in der „Arbeit mit dem inneren Kind“ darum zu erkennen, wann diese Muster wirksam werden, zu akzeptieren, dass sie wirksam werden, um sie dann an das heute anzupassen. Denn das, was beispielsweise in der Kindheit eine Bedrohung wahr, ist es im Erwachsenenalter meist nicht mehr. Als Erwachsene sind wir Situationen und Menschen mehrheitlich nicht so ausgeliefert, wie wir es in der Kindheit waren. Unser Verstand weiß das im Grunde, doch unsere emotionalen Reaktionen und die Reaktionen unseres Nervensystems sind noch im Ursprünglichen verhaftet. Die „Arbeit mit dem inneren Kind“ hat für mich nichts mit dem endlosen Wühlen in der Vergangenheit zu tun. Es geht vielmehr um die Anpassung der Muster an deine heutige Realität. Der Brief an das innere Kind ist ein erster Schritt in die Richtung, Anteile deiner Persönlichkeit, die du nicht magst, dich nicht traust zu zeigen oder gar verleugnest, anzuerkennen.

Was ist mit diesen Mustern gemeint?

Diese Muster sind alte Muster, größtenteils entstanden in der Kindheit und Jugend, als sie dir dienlich waren und dich schützten. Die Muster entstanden oft aus dem kindlichen Ur-Bedürfnis nach Sicherheit und Orientierung. Wenn die dich umgebenden Erwachsenen dir diese Sicherheit und Orientierung nicht geben konnten, haben sich in dir damals diese Muster gebildet und dein Überleben gesichert. Diese Muster können vielfältig sein. Hier einige Beispiele Überanpassung, Rebellion, sich aufopfern für andere, die eigenen Emotionen verleugnen, die eigenen Stärken verleugnen. Als erwachsener Mensch fragst du dich dann, warum du keinen Zugang zu deinen Gefühlen hast, keine Grenzen setzen kannst oder bei jeglicher Form von Kritik gleich an die Decke gehst. 

Zwei meiner Muster sind, dass ich bei Lob oder Kritik entweder in die Defensive gehe oder wütend werde. Defensiv im Sinne von eine ablehnende Haltung einnehmen. Jemand lobt mich und eine Millisekunde später schießt mir die Frage „Was willst du von mir?“ durch den Kopf. Kritisiert mich jemand, reagiere ich sofort wütend und ablehnend, fühle mich verkannt oder ungerecht behandelt. Heute weiß ich, dass dies meine Spontanreaktionen sind, Schutzmuster, die mich in meiner Kindheit und Jugend vor Übergriffen und grenzüberschreitenden Verhalten schützten. Heute kenne ich diese Muster und fast parallel zu Spontanreaktion greift mein neues Muster, welches ich für diese Situationen entwickelt habe: Ich gleiche die aktuelle Situation mit dem was mir an Lob oder Kritik entgegengebracht wird ab. Erst dann entscheide ich, wie ich darauf reagiere, ob ich das Lob und die Kritik annehme und noch später, was ich daraus mache. 

Warum die Arbeit mit dem inneren Kind hilfreich ist

Unverarbeitete Emotionen, Traumata und Erfahrungen aus unserer Kindheit können sich also auf unser Erwachsenenleben auswirken, indem sie unsere Beziehungen, unser Selbstbild und unser allgemeines Wohlbefinden beeinflussen. Die Arbeit mit dem inneren Kind / Kindheits-Ich ist ein Weg, diese ungelösten Gefühle zu verstehen und anzunehmen und zu transformieren, was zu größerer emotionaler Freiheit und einem erfüllteren Leben führt. Dies kann dabei helfen, diese tiefen Ängste und Verletzungen zu überwinden und die Aspekte des Selbst, denen wir bisher wenig Beachtung schenkten, mehr in den Fokus zu rücken und die in jedem Menschen vorhandenen Ressourcen zu aktivieren, die aufgrund der Kraft der alten Muster häufig aus dem Blickfeld geraten.

In einem Gespräch heute erzählte mir ein Klient von einem Bewerbungsgespräch. Mitten im Gespräch verspürte er eine lähmende Unsicherheit und Angst. Das passierte im Innen. Im Außen übernahm ein anderer Persönlichkeits-Anteil, der das Gespräch so gut meisterte und dafür sorgte, dass er die Stelle bekam. Dieser Anteil blieb handlungsfähig und verharrte nicht in der Angststarre. In unserem Gespräch erhielt der Angst-Teil viel Aufmerksamkeit, während der Teil, der für den Erfolg sorgte, eher nebenbei erwähnt wurde. 

Ziel der Arbeit mit dem inneren Kind ist nicht, jetzt auf Spurensuche zu gehen und herauszufinden, wann und warum ich so geworden bin, sondern im ersten Schritt geht es darum zu akzeptieren: „Ah, da war die Angst, aber da war auch noch etwas anderes, eine Stärke, die mir half, im Gespräch zu bleiben.“ Es geht also um Akzeptanz der alten Muster und Emotionen und um Fokusverschiebung in Richtung Ressourcen. Beides ist da und beides hat eine Berechtigung. Diese Arbeit ermöglicht es, Selbstliebe und Mitgefühl zu entwickeln, nicht nur für andere, sondern auch für dich selbst, und das spielt eine entscheidende Rolle dabei, ein gesundes, ausgeglichenes und authentisches Leben zu führen. 

Der Zugang zu dir selbst

Mit dieser Arbeit lässt du dich auf einen tiefen persönlichen Prozess ein. Dessen Gelingen hängt von deiner Bereitschaft ab, dich mit den tieferen Schichten des eigenen Seins zu beschäftigen. Es geht darum, einen sicheren Raum zu schaffen, in dem Wunden sich schließen können. Es geht nicht darum, perfekte Erinnerungen zu haben. Jeder Schritt zur Selbstakzeptanz und zum Mitgefühl mit dir selbst ist ein Schritt hin zu größerer Lebenszufriedenheit. Es spielt keine Rolle, ob du viele oder nur wenig Erinnerungen an deine Kindheit hast. Der Zugang zu dir selbst und damit zu den Mustern, die du als Kind entwickelt hast, beruht auf der Verbindung zu den Gefühlen, Bedürfnissen und Erfahrungen, die tief in deinem emotionalen Gedächtnis verankert sind.

Du hast in deiner Kindheit zu wenig Schutz und Fürsorge erfahren? Dann geht es heute darum, dass du lernst, dir selbst Schutz und Fürsorge zu geben. Wenn du dich dabei ertappst, dass du dir selbst gegenüber ungeduldig bist, stell dir ein Kind aus deinem Umfeld vor, ein Kind, dass du magst. Wie würdest du ihm gegenüber reagieren, wenn du ungeduldig bist? Ich gehe davon aus, du würdest es nicht beschimpfen, wegschicken, allein lassen sondern du würdest es unterstützen. Diese Art des Umgangs, darfst du auf den Umgang mit dir selbst übertragen.

Was repräsentiert das innere Kind?

Das innere Kind repräsentiert Emotionen, Erinnerungen, Hoffnungen, Träume und Ängste aus der Kindheit. Wir arbeiten nicht mit dem realen Kind, welches du einmal warst. Das innere Kind, so wie ich es verstehe, ist eine symbolische Darstellung all dessen, was du während deiner Kindheit erlebt, gefühlt, befürchtet und gehofft hast und wie dein Nervensystem dies verarbeitet und eingeordnet hat.

  • Emotionen: Hier geht es um das gesamte Spektrum an Emotionen, die du als Kinder erfahren hast. Dazu gehören unbeschwerte Freude, Neugier, Begeisterung und Liebe, aber auch tiefe Traurigkeit, Angst, Wut, Ohnmacht und Verlassenheitsgefühle. Diese Emotionen sind oft rein und unverfälscht, reflektieren deine unmittelbaren Reaktionen auf die Welt um dich herum. Diese Reaktionen können in Form von Mustern in deinem Erwachsenenleben nachhallen.
  • Erinnerungen: Deine Erinnerungen an die Kindheit, sowohl die bewussten als auch die unbewussten, sind ein zentraler Bestandteil der Arbeit mit dem inneren Kind. Sie umfassen Momente der Freude und des Glücks ebenso wie Zeiten des Schmerzes, der Enttäuschung und des Missverständnisses. Diese Erinnerungen formen noch heute deine Wahrnehmung der Welt und beeinflussen deine Entscheidungen, Verhaltensweisen und Beziehungen.
  • Ängste: Die Ängste, die du als Kinder empfunden hast, sowohl real als auch eingebildet, sind ebenfalls ein wichtiger Teil dieser Arbeit. Diese Ängste können von konkreten Erlebnissen herrühren oder aus der Art und Weise, wie du die Welt um dich herum interpretiert hast. Sie können tief in deinem Unterbewusstsein verankert sein, selbst wenn du dir dessen nicht bewusst bist.

Schreibe einen Brief an dein inneres Kind

Der Brief an das innere Kind ist eine Methode, die in der Arbeit mit psychologischen Mustern und Traumata verwendet wird. Dieser Brief bietet einen einfühlsamen und effektiven Weg, um mit diesen tief verwurzelten Mustern in Kontakt zu kommen und einen Prozess der Annahme und Veränderung einzuleiten. Natürlich kannst du auch darüber sprechen. Meiner Erfahrung nach hilft das Schreiben jedoch dabei, verworrene Gedanken und widersprüchliche Gefühle zu ordnen. Das Aufschreiben von Sorgen und Ängsten kann als eine Form der Distanzierung dienen, die Entlastung schafft und den mentalen und emotionalen Stress reduziert. Außerdem ermöglicht Schreiben ein sicheres Erkunden von Gefühlen und Gedanken, die mit alten Verletzungen oder Traumata verbunden sind, und kann zur emotionalen Entlastung beitragen.

Dieser Brief kann aus verschiedenen Gründen ein wirksamer Einstieg in die Arbeit mit deinen Mustern sein:

  • Zugang zu verdrängten Gefühlen: Viele Muster entstanden in der Kindheit als Reaktion auf deine Umgebung und Erlebnisse. Ein Brief an das innere Kind ermöglicht es, dich direkt mit diesen frühen Erfahrungen auseinanderzusetzen und verdrängte oder nicht verarbeitete Gefühle anzusprechen.
  • Selbstmitgefühl und Verständnis fördern: Indem du deinem verletzlicheren Teil von dir selbst schreibst, kannst du eine Haltung des Mitgefühls und Verständnisses entwickeln. Dies ist oft ein erster Schritt, um kritische Selbstgespräche und negative Glaubenssätze zu überwinden.
  • Erkennen und Durchbrechen von Mustern: Viele deiner Verhaltensmuster sind unbewusste Strategien, die in der Kindheit entwickelt wurden, um mit Stress, Angst oder Trauma umzugehen. Indem du dich mit deinen Erfahrungen auseinandersetzt, kannst du diese Muster erkennen und verstehen. Ein erster Schritt zur Veränderung.
  • Integration und Heilung: Die Anerkennung der Gefühle und Erfahrungen aus deiner Kindheit kann zu einer emotionalen Integration führen. Dies hilft, innere Konflikte zu lösen.
  • Selbsterkenntnis und persönliches Wachstum: Der Prozess des Schreibens kann tiefe Einsichten in deine Bedürfnisse, Wünsche und Ängste bringen. Dies erhöht die Selbstkenntnis und unterstützt persönliches Wachstum.

Zum Schluss

Jetzt weißt du zwar, was ich unter der „Arbeit mit dem inneren Kind“ verstehe und warum ein Brief an dein inneres Kind hilfreich sein kann, aber du weißt nicht, wie du diesen Brief schreiben sollst? Dann lade dir hier die Anleitung herunter, die ich für dich geschrieben haben. (Erscheint in Kürze)

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4 Kommentare

  1. Heiko Metz 5. März 2024 um 16:39 Uhr

    Hallo Sylvia,
    eine schöne Idee mit dem Brief an mein inneres Kind, um Mustern und Prägungen auf die Spur zu kommen und mehr, bzw. tiefer mit mir in Verbindung zu treten.
    Vielen Dank dafür.
    Heiko

  2. Esther 4. März 2024 um 15:30 Uhr

    Liebe Sylvia, deine Erklärungen zur Arbeit mit dem „inneren Kind“, sind sehr hilfreich. Es ist entlastend zu lesen, dass es nicht um ein Wühlen in der Vergangenheit geht, sondern vielmehr darum, Muster an die heutige Realität anzupassen.

    Es macht richtig Lust und weckt die Neugier, mit Schreiben zu beginnen. Ich bin schon sehr gespannt auf deine Anleitung und freue mich darauf.
    Liebe Grüsse, Esther

  3. Sylvia Tornau 4. März 2024 um 09:58 Uhr

    Liebe Birgit, das freut mich, wenn dir mein Beitrag die Angst vor dem „Inneren Kind“ etwas nehmen konnte. Allerdings muss ich dir widersprechen. Es geht nicht darum, Emotionen, Handlungen, Reaktionen zu verabschieden, das können wir uns vornehmen, aber das klappt in der Regel nicht. Die Schritte gegenüber den alten Mustern sind Anerkennen und Akzeptieren, Bedanken – denn sie haben etwas für dich geleistet, Herausfinden, was sie geleistet haben, also welchem Bedürfnis in dir war dieses Muster dienlich und dann Transformieren in eine neue Reaktion, ein neues Muster. LG Sylvia

  4. Birgit Buchmayer 4. März 2024 um 07:31 Uhr

    Liebe Sylvia, mich persönlich entlastet dein Artikel sehr. Mehr und mehr verstehe ich die Arbeit mit dem „Inneren Kind“. Abgeschreckt hat mich immer wieder das Wühlen in der Vergangenheit. Doch das muss ich ja gar nicht machen. Ich stelle mir ab sofort die Frage nach der aktuellen Nützlichkeit der aufkommenden Gefühle. Sind sie noch nützlich, dann dürfen sie bleiben. Sind sie nicht mehr nützlich, dann good bye.
    Ich danke dir, liebe Grüße, Birgit

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Hallo, ich bin Sylvia

systemische Therapeutin, Trauma-Coach und Bloggerin. Seit über 20 Jahren arbeite ich mit Paaren, Familien und Einzelpersonen daran, negative Kindheitsprägungen und frühe Traumata zu lösen und ein Leben voller Selbstvertrauen, innerem Frieden und emotionaler Stabilität zu führen.
Für ein erfülltes Leben in Verbundenheit.

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