Gedankenkarussell stoppen: Aus der Grübelfalle aussteigen und innere Ruhe finden
Es ist halb drei nachts. Der Tag liegt hinter mir – eigentlich. Doch in meinem Kopf ist es hellwach. „Darf ich überhaupt als Therapeutin arbeiten, bei meiner Geschichte, meinen wiederkehrenden Depressionen?“ „Was, wenn die anderen merken, dass ich anders bin?“ „Vielleicht leide ich ja unter gnadenloser Selbstüberschätzung, oder meine Fantasie geht mit mir durch und ich bilde mir nur ein, dass ich eine gute Therapeutin bin.“ So oder mit ähnlichen Zweifeln lag ich nächtelang wach, als ich vor 20 Jahren mit der Arbeit als systemische Therapeutin begann. Klassisches Impostor-Syndrom, von einem endlos laufenden Gedankenkarussell verstärkt.
Diese schlaflosen Nächte fielen mir spontan wieder ein, nachdem mich Pia Hübinger darum gebeten hatte, an ihrer Blogparade „Wie kann ich mein Gedankenkarussell stoppen?“ teilzunehmen. Aus meiner Sicht ein enorm wichtiges Thema, da viele meiner Klient:innen ebendiesen Ausweg aus dem Gedankenkarussell suchen. Sie berichten genau davon: von unaufhörlichen Gedankenschleifen, besonders dann, wenn sie zur Ruhe kommen wollen. Genau dann wird es laut im Kopf. Am Ende fehlt der Schlaf, das Selbstwertgefühl landet im Minusbereich und schlauer fühlen wir uns davon auch nicht.
Das Gedankenkarussell – es kommt oft ungefragt, dreht sich stundenlang, manchmal sogar tagelang, wirft Fragen auf, bringt aber keine Antworten. Es laugt aus. Und es lässt uns vergessen, dass wir mehr sind als unsere Gedanken. Wenn du das kennst, sei versichert: bist du nicht allein damit.
Was hinter dem Gedankenkarussell steckt
Früher dachte ich, ich müsse mich nur genug anstrengen, mir die Gedanken versagen, mich ablenken. Gelang mir dies nicht und die Gedanken kreiselten weiter in meinem Kopf, hielt ich mich für eine Versagerin. Damals wusste ich noch nicht, was ich heute weiß: Ein rastloser Verstand ist kein Zeichen von Unfähigkeit oder fehlender Disziplin. Er ist ein Ausdruck von innerer Unruhe, von einem Nervensystem, das sich nicht sicher fühlt. Besonders bei Menschen mit Traumahintergrund – ob bewusst oder unbewusst – ist das Grübeln oft eine alte Überlebensstrategie: Wenn ich alles verstehe, kann ich es vielleicht kontrollieren. Wenn ich alles bedenke, bin ich vielleicht sicher.
Gedankenkarusselle entstehen, wenn innere Anteile – verletzte, überforderte oder wachsame – das Ruder übernehmen. Sie haben negative Erfahrungen gemacht und wollen uns vor neuen negativen Erfahrungen schützen. Doch dieser Schutzmechanismus ist nicht nur wirkungslos, sondern er macht müde, laugt aus und hindert uns schlimmstenfalls notwendige Entscheidungen zu treffen.
Wenn das Grübeln übernimmt, will ein Anteil in dir nur eins: dich schützen. Doch was dich wirklich trägt, ist nicht Kontrolle – sondern Verbindung. Sylvia Tornau
Warum Grübeln eine Notlösung ist – und keine Lösung
Grübeln ist eine Notlösung – eine Strategie unseres Verstandes, unseres inneren Systems, mit der inneren Unsicherheit umzugehen. Vor allem bei Menschen mit frühen Erfahrungen von Kontrollverlust, Abwertung oder emotionaler Unsicherheit wird das Denken zur Zuflucht. Es entsteht eine stille, aber leider irreführende Logik: Wenn ich nur lange genug über alles nachdenke, finde ich vielleicht endlich heraus, was falsch ist – mit mir, mit der Situation, mit der Welt. Und wenn ich weiß, kann ich es kontrollieren, kann ich damit umgehen. Weit gefehlt, aus eigener Erfahrung weiß ich: Der Verstand kann keine Sicherheit herstellen, wenn der Körper im Alarmzustand ist.
Stattdessen beginnt ein innerer Kreislauf:
- Ein Gedanke taucht auf (z. B. Was, wenn ich das gar nicht kann?)
- Er wird bewertet (z. B. Vielleicht mache ich mir nur etwas vor.)
- Es entstehen Gefühle: Schuld, Angst, Scham
- Diese Gefühle lösen neue Gedanken aus (z. B. Vielleicht richte ich bei den Menschen, die mir vertrauen, größeren Schaden an.)
- Mein Körper reagiert mit Stress (erhöhter Puls, flacher Atem, Schweißausbruch, im Bett herumwälzen)
- Und wieder beginnt das vergebliche Grübeln. (z.B. Es ist schon spät, ich muss endlich schlafen)
Grübeln führt nicht zu Lösungen – es verstärkt, was wir eigentlich beruhigen wollen. Sylvia Tornau
Denn wer, so wie ich damals, in einem System voller Misstrauen denkt – egal, ob sich selbst oder anderen gegenüber, wird kaum zu einem Gedanken kommen, der tröstet. Habe ich die Erfahrung gemacht, dass mir nichts zugetraut wird, werde ich mir selbst nichts zutrauen, mir nicht vertrauen. Habe ich die Erfahrung gemacht, dass ich anderen Menschen nicht vertrauen kann, wird mein inneres System mich davor schützen wollen, anderen zu vertrauen. Denn es stuft Vertrauen als gefährlich ein. Dementsprechend erzählen mir meine Gedanken von den Gefahren, die im Vertrauen lauern.
Grübelgedanken sind keine Wahrheiten – auch wenn wir sie dafür halten
„Glaub nicht alles, was dein Kopf dir erzählt“ Als ich diesen Satz zum ersten Mal las, stieg ein bitteres Lachen in mir auf. Als ob ich die Wahl hätte. Wem, wenn nicht meinem schlauen Kopf, sollte ich denn glauben? Jetzt wollen sie mir auch noch das Vertrauen in meinen Kopf nehmen? Ich war zutiefst empört. Inzwischen, viele Jahre nach meiner ersten Begegnung mit diesem Satz, kann ich sagen: Dieser Satz hat mich aufgerüttelt.
Heute weiß ich, dass unsere Gedanken, wenn wir grübeln, oft wie unumstößliche Tatsachen wirken. „Ich habe versagt.“ „Ich bin nicht gut genug.“ „Ich gehöre nicht dazu.“ (Eine Auswahl meiner häufigsten Bewertungen.) Ich weiß inzwischen, dass unser Gehirn seine „Wahrheiten“ aus dem zieht, was es kennt, was es für Erfahrungen gemacht hat, was früher war – nicht unbedingt aus dem, was heute wirklich wahr ist.
Wenn du wie ich Ablehnung erlebt hast, sucht der Kopf ständig nach Beweisen dafür, warum andere dich ablehnen müssen. Wenn du gelernt hast, dass Liebe an Bedingungen geknüpft ist, denkt dein Kopf: Ich muss mich anpassen, um geliebt zu werden.
Grübeln fühlt sich wie Lösungssuche an – doch wir drehen uns in alten Denkmustern, die beruhigen wollen, aber verunsichern. Sylvia Tornau
Es geht bei dem Satz „Glaub nicht alles, was dein Kopf dir erzählt“ nicht darum, deinen Gedanken zu misstrauen. Sondern es geht darum, unterscheiden zu lernen:
- Ist dieser Gedanke eine Reaktion auf die Gegenwart – oder ein Echo aus der Vergangenheit?
- Dient der Gedanke mir – oder verunsichert er mich?
- Möchte ich ihm glauben – oder darf ich ihn liebevoll ziehen lassen?
Die wohl wichtigste Erkenntnis für mich, aus der Begegnung mit diesem wunderbaren Satz, lautet: Ich habe die Wahl, zu entscheiden, ob ich weiter in die eine Richtung denken möchte oder ob ich mich einem anderen Gedanken zuwende.
Raus aus dem Kopf, rein ins Spüren
Diese Unterscheidung – zwischen alten Gedankenmustern und gegenwärtiger Wahrheit – ist ein erster Schritt heraus aus dem Gedankenstrudel.
Nicht, indem du gegen deine Gedanken kämpfst. Sondern indem du ihnen zuhörst, ohne dich mit ihnen zu verwechseln.
Denn du bist nicht deine Gedanken.
Du bist die Person, die sie bemerkt, ihnen zuhört.
Und du darfst wählen, worauf du deine Aufmerksamkeit richtest.
Vielleicht hast du Lust, jetzt eine der folgenden kleinen Übungen auszuprobieren. Tue etwas, das nicht nach einer Lösung sucht, sondern dir erlaubt, dich selbst zu spüren – jenseits der Geschichten in deinem Kopf. Vielleicht braucht dein Nervensystem genau jetzt ein wenig Beruhigung. Falls du jetzt keine Lust darauf hast, speichere dir den Link ab und nutze sie dann, wenn du sie brauchst.
Körperorientierte Wege aus dem Gedankenstrudel
- Drehe langsam deinen Kopf von links nach rechts, richte dabei deinen Blick auf den Boden und nimm den Kopf dabei mit. Dann dreh den Kopf von rechts nach links und richte Kopf und Blick nach oben. Wichtig ist, dass dein Kopf der Blickrichtung folgt. Über die Drehung deines Kopfes kommst du zurück in die Verbindung mit deinem Körper.
- Schüttel dich für zwei Minuten – wild, frei, intuitiv und ächze, stöhne oder gib sonstigen Laut dabei.
- Lege eine Hand sanft auf deinen Bauch, spüre die Wärme, die zwischen Hand und Bauch entsteht.
- Atme: vier Sekunden ein, sechs Sekunden aus.
- Laufe ein paar Schritte barfuß und spüre den Boden – ist er weich, warm, kalt, piekst er?
- Lass kaltes Wasser über deine Handgelenke fließen, oder wenn du wie ich in solchen Momenten die härtere Variante benötigst, dusche deinen Kopf kalt ab.
- Sing oder summe ein Lied, welches du magst.
Dein Nervensystem braucht keine Kontrolle. Es braucht Verbindung. Die Verbindung zu dir selbst. Und diese stellst du am ehesten über den Körper her.
Innere Anteile wahrnehmen
Innere Anteile sind verschiedene Seiten in uns – wie innere Stimmen, die aus alten Erfahrungen sprechen und versuchen, uns vor Schmerz zu bewahren. Du hast das sicher auch schon einmal erlebt: Du willst eine Entscheidung treffen, z.B. neuen Job, Umzug oder die Frage „trennen oder bleiben?“. In deinem Kopf hörst du sowohl Pro- als auch Kontra-Stimmen. Jede dieser Stimmen verkörpert einen anderen inneren Anteil von dir.
Frage dich also: Wer in mir denkt da so laut? Ein ängstlicher Anteil, ein innerer Kritiker oder ein verletztes Kind?
Kleine Übung:
Setz dich bequem hin. Spüre, wo dein Körper den Stuhl berührt, korrigiere, falls sich etwas unangenehm anfühlt.
Atme mehrmals tief ein und aus und stell dir vor, du betrittst einen inneren Raum. Ist es ein heller, lichtdurchfluteter Raum? Ist es eine Höhle?
In diesem Raum triffst du auf die Stimme, die gerade denkt.
Frag sie:
- „Was brauchst du gerade?“
- „Wovor möchtest du mich schützen?“
- „Was würde dich beruhigen?“
Hör einfach zu. Du musst keine Lösung finden. Allein deine Zuwendung wirkt regulierend.
Gedanken aus dem Kopf holen
Es hört sich vielleicht etwas merkwürdig an, die Gedanken aus dem Kopf zu holen. In mir entsteht dabei jedenfalls immer das Bild vom Zauberer Dumbledore und seinem Denkarium. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es gut tut, Gedanken aus dem Kopf zu holen, weil sie im Außen an Klarheit gewinnen. Gleichzeitig entsteht dabei im Inneren mehr Raum für Ruhe und Selbstwahrnehmung.
So holst du deine Gedanken aus deinem Kopf:
- Schreib sie auf, ganz pur und unzensiert – schimpfe, fluche, jammere. Es gibt nur eine Bedingung: Niemand bekommt jemals zu lesen, was du da aufgeschrieben hast, auch du selbst nicht.
- Male sie – als Linien, Kreise, Wirbel. Sei expressiv, nimm großes Papier und fette Stifte.
- Sprich sie laut aus und sage dann: „Ich höre dich. Und ich kümmere mich später um dich.“
- Schreib den Gedanken, der dich am meisten verunsichert, auf einen Zettel. Lege diesen in eine kleine Box: deine Gedankenkiste für später.
Der Raum zwischen den Gedanken
Wenn ich heute an die schlaflosen Nächte vor zwanzig Jahren denke, spüre ich Mitgefühl. Für die junge Frau, die dachte, sie müsste alles allein schaffen. Die glaubte, ihre Gedanken seien die Wahrheit. Heute weiß ich: Gedanken dürfen da sein. Aber sie steuern meine Entscheidungen, mein Wohlgefühl nicht. Ich darf aussteigen aus dem Gedankenkarussell – ohne alles verstanden zu haben. Und du darfst das auch. Denn sehr wahrscheinlich ist das Gedankenkarussell nicht dein Feind. Sondern ein alter Anteil in dir, der sich sicher fühlen will. Deshalb frage dich in ruhigen Momenten: Was bringt dein Karussell in Schwung? Gibt es innere Stimmen, die dann besonders laut werden? Was hilft dir, dich zu verankern – Musik, Natur, Bewegung? Gibt es eine Geste oder ein Ritual, das dich zurück ins Hier und Jetzt holt? Bedenke, dort, wo die Gedanken Pause machen – dort kann etwas Neues beginnen. Keine Sorge, du legst damit deinen Verstand nicht still, aber du schaffst dir Raum, in dem du dich selbst wieder hören und spüren kannst.
Für mich sind die Nächte, in denen ich nachts grübelnd wachliege, selten geworden. Nicht, weil mein Kopf keine Zweifel mehr kennt – sondern weil ich gelernt habe, ihnen anders zu begegnen. Ich bin nicht die Therapeutin, die „alles im Griff“ hat. Ich bin die, die zuhört. Auch den eigenen Stimmen. Die spürt, wenn der Körper leise flüstert. Und ich bin die, die sich – mitten im Karussell – wieder daran erinnert: Ich darf mich spüren, bevor ich funktioniere.
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Herzliche Grüße
Liebe Pia, deine Rückmeldung und dein Kommentar fühlen sich an wie Geschenke: die Geschenke „Gelesen“ und „Verstanden“ zu werden. Ich danke dir für die Anregung zu diesem Beitrag. Liebe Grüße, Sylvia
Liebe Sylvia,
dein Beitrag berührt, weil er zeigt, wie genau du hinspürst. Du machst verständlich, wie tief das Gedankenkarussell verankert ist, und warum es so hartnäckig wiederkehrt, gerade in den Momenten, in denen wir Ruhe brauchen.
Deine Worte holen das Grübeln aus der Ecke von Disziplinlosigkeit oder „falschem Mindset“ – und verankern es dort, wo es hingehört: in unserer Geschichte, in unserem Nervensystem, in den inneren Anteilen, die schützen wollen.
Was du an Impulsen mitgibst, ist nichts Geringeres als eine Einladung zur Selbstzuwendung. Ohne Druck, ohne Rezept, sondern mit tiefem Respekt vor der inneren Dynamik.
Danke, dass du diesen Weg so klar aufzeichnest und mit diesem wertvollen Beitrag meine Blogparade bereicherst!
Von Herzen
Pia