Wie ein einziger Satz mein Selbstbild veränderte
Manche Sätze begleiten uns ein Leben lang. Andere kommen zur rechten Zeit – und verändern alles. Um genau solche Sätze, die dich schon lange begleiten oder etwas Wesentliches in deinem Leben verändert haben, geht es in meiner Blogparade.
In diesem Beitrag erzähle ich dir von einem Satz, der mein innerstes Erleben neu geordnet hat. Ein Satz, der mir half, mich nicht länger als gestört, sondern als verletzt zu begreifen. Es ist mein persönlicher Beitrag zu meiner Blogparade, die ich am 15. Mai 2025 ins Leben gerufen habe. Bis zum 22. Juni 2025 sammle ich unterstützende und ermutigende Sätze. Indem wir unsere tragenden Sätze teilen, entsteht ein Schatz an Ermutigung, der uns selbst und anderen in dunklen Momenten Orientierung, Trost und innere Stärke schenken kann.
Du bist herzlich eingeladen, Teil dieser Blogparade zu werden und deinen eigenen tragenden Satz und ermutigenden Worte mit anderen zu teilen. Alle Informationen dazu findest du in meinem Aufruf zur Blogparade: ➡️ Ein Satz, der mich trägt – Worte, die Mut machen
Meine erste Begegnung mit Trauma-Verständnis
Es war ein kurzer Moment im Gespräch mit einer Psychotherapeutin, Anfang der 90er Jahre. Ich war damals Mitte zwanzig und suchte Hilfe – nicht zum ersten Mal. Man hatte mir die Diagnosen „endogene Depression“ und „Borderline-Persönlichkeitsstörung“ gegeben. Begriffe, die seit einem Aufenthalt in der Psychiatrie in den 80ern wie Etiketten an mir hafteten. Ich las alles zum Thema, was ich finden konnte – und fand mich darin nicht wieder. Ich fühlte mich nicht gesehen, nicht verstanden. Die Diagnosen fühlten sich an wie ein Urteil – aber nicht wie eine Erklärung. Ich rebellierte. Still und laut. Zu meiner Überraschung stieß ich bei dieser Therapeutin nicht auf Widerstand, sondern auf Zustimmung.
Sie war die erste Traumatherapeutin, mit der ich zusammenarbeitete. Sie kannte meine Geschichte: ein Aufwachsen mit körperlicher und sexueller Gewalt in der Familie, mit Mobbing in der Schule und dem Wegschauen all jener, die es hätten sehen müssen. Die Therapeutin hörte mir wirklich zu. Sah mich nicht als Störung, nicht als Diagnose. Sondern als Mensch.
Ich litt unter dem ständigen Auf und Ab meiner Emotionen. Ich machte mich selbst nieder, hielt mich für falsch. Für nicht normal. Rückblickend war das der Moment, in dem ich zum ersten Mal begann, mein Trauma zu verstehen – nicht als individuelles Versagen, sondern als Überlebensleistung.
Ein Satz, der alles verändert
In einer denkwürdigen Sitzung sagte sie den einen Satz, der mein Leben verändert hat. Einfach gesagt. Ohne Pathos. Ohne große Geste. Und doch hat er mein Innerstes erschüttert, geordnet, befreit:
„Was Sie fühlen, ist eine normale Reaktion auf die unnormale Situation Ihres Aufwachsens.“
Ich weiß nicht mehr, ob sie genau diese Worte wählte. Aber die Botschaft kam bei mir an. Wie ein warmer Strom inmitten von Kälte. Zum ersten Mal wurde nicht ich infrage gestellt – sondern das, was mir passiert war. Mein Schmerz war nicht mehr Ausdruck von Schwäche oder Krankheit, sondern ein Echo dessen, was zu viel war, zu früh, zu heftig.
Im Nachgang betrachtet kann ich sagen, ab diesem Moment wuchs etwas in mir, das ich lange nicht gekannt hatte: Würde.
Der Wendepunkt
Dieser Satz entpuppte sich im Nachgang zu einem wirklichen Wendepunkt in meinem Leben. Was sich im Einzelnen für mich verändert hat, fasse ich in den folgenden Abschnitten zusammen.
Gesehen, gehört, verstanden
Ich weiß noch, dass ich traurig und zugleich sehr entspannt aus dieser Sitzung ging. Traurig, weil ich schon Mitte zwanzig war und mich zum ersten Mal in meinem Leben wirklich gesehen, gehört und verstanden fühlte. Glücklich, weil ich mich zum ersten Mal wirklich gesehen, gehört und verstanden fühlte. Der Satz drang behutsam in mich ein. Buchstabe für Buchstabe musste ich ihn erst verdauen, bis seine Botschaft wirklich in mir zu wirken begann. Doch von dem Moment an, als ich mich zutiefst verstanden fühlte, entfaltete er seine Kraft in mir.
Mein Blick auf mich verändert sich
Ich begann, mich selbst nicht länger als Störung zu betrachten, sondern als Mensch mit einer düsteren Vergangenheit. Hatte ich bisher den Blick von außen auf mich übernommen – „Du bist doch krank, gestört“ – vertraute ich zunehmend dem tiefen Wissen in mir, dass ich weder krank noch gestört war, sondern dass mich die Menschen um mich herum, die mich eigentlich hätten schützen sollen, zutiefst verletzt und verstört hatten. Dieser Perspektivwechsel war ein erster Schritt zur Selbstwahrnehmung – hin zu einem Verständnis, das Würde und Vertrauen in meine Wahrnehmung statt Scham in den Mittelpunkt rückte.
Warum sie mir die Störung zuschrieben
Heute weiß ich, dass die anderen – meine Familie und auch Therapeut:innen in der DDR – sich selbst damit schützten, dass sie mir die Störungen und Erkrankungen zuschrieben. Die einen aus Angst vor möglichen Konsequenzen dessen, was sie mir antaten, die anderen aus Angst vor staatlichen Repressionen. Denn sexuelle Gewalt an Kindern gehörte zu den großen Tabuthemen dieses Landes und fand offiziell nicht statt. Ich wusste genau, was mir passiert war, doch niemand glaubte mir. Daher wusste ich lange Zeit nicht, dass es Unrecht war. Für mich war die Gewalt so selbstverständlich, dass ich noch bis in meine Jugendjahre dachte, es sei normal. Ich glaubte, alle Kinder würden so etwas erleben und brachte meine massive Trauer und Wut nicht in den Zusammenhang mit den Erlebnissen dieser Zeit. Daher war es einfach, mir einzureden, ich sei das Problem und ich sei krank.
Der eigentliche Befreiungsschlag
Zu verstehen, dass die Art meines Aufwachsens eben nicht normal war, dass meine Erinnerungen keine Ausgeburten meiner Fantasie waren, wie es mir Eltern und Therapeut:innen einredeten, das war der eigentliche Befreiungsschlag in meinem Leben. Es galt immer noch, den Schmerz und die in meiner Seele entstandenen Wunden zu akzeptieren, anzunehmen, aber es war so viel leichter, dies auf der Basis des Vertrauens in meine Wahrnehmung zu tun, als ständig um die eigene Wahrnehmung zu ringen und mich zu fragen, ob ich nicht vielleicht doch „verrückt“ sei. Ich verstand, dass meine Wahrnehmung von anderen „verrückt“, also durcheinandergebracht worden ist und dadurch lernte ich, mir zu vertrauen. Und ich lernte, das Geschehene in den Kontext von Familie, Gesellschaft und traumatischer Sprachlosigkeit einzuordnen.
Mein Schmerz war echt
Meine Wahrnehmung und damit auch mein Schmerz waren echt und richtig. Oder korrekter formuliert, sie passten zur Situation, in der sie entstanden waren. Trotz der Erkenntnis fuhren meine Emotionen noch lange Achterbahn und das tun sie, in abgeschwächter Form, bis heute, wenn jemand meine Wahrnehmung infrage stellt. Doch die Erkenntnis, dass meine Wut und meine Trauer eine Berechtigung hatten, dass sie eine „normale“ Reaktion auf eine unnormale Situation waren, öffnete erst den Raum, mich meiner Wut und meiner Trauer stellen zu können. Da war kein Irrtum mehr in mir, keine falsche Fährte, der ich länger folgte, und kein endloser Selbstverdacht mehr, keine Denunziation meiner Fantasie mehr.
Was bleibt
Was mir bis heute bleibt, ist das Wissen, nicht ich hatte eine „schmutzige Fantasie“, sondern mein früheres Umfeld war einfach ungesund und verletzend. Mein Schmerz war echt und hatte eine echte Ursache im Außen. Das anzuerkennen tat verdammt weh – und fühlte sich gleichzeitig unglaublich befreiend an.
Ich sehe mich nicht durch die Augen derer, die mich pathologisiert hatten. Etwas in mir richtete sich auf. Nicht über Nacht, nicht spektakulär – aber spürbar. Ich hörte auf, meine Reaktionen als Beweise für mein Anderssein zu lesen. Stattdessen erkannte ich in ihnen Spuren meines Überlebens. Ich erkannte die Stärke darin und diese Stärke durfte wachsen und dient mir bis heute als Kraftquelle.
Dieser Satz ist eines der wertvollsten Geschenke meines Lebens. Ihn anzunehmen, war nicht das Ende meines Weges, mit den traumatischen Ereignissen umgehen zu lernen, aber es war ein Wendepunkt. Von da an begann ich, mich selbst ernst zu nehmen. Nicht als gestörter oder kranker Mensch. Sondern als Mensch mit Geschichte und mit Würde. Seitdem stelle ich mein Recht auf einen Platz in dieser Welt nicht mehr infrage. Ich nehme ihn mir, weil er mir so sehr zusteht, wie jedem anderen Menschen, Wesen, Organismus. Ich frage nicht mehr, ob ich in diese Welt passe, denn ich bin da, also gehöre ich selbstverständlich hierher. Die Frage lautet heute eher: Wer oder was von dieser Welt passt zu mir und wer oder was nicht. Ich habe die Wahl und ich wähle.
Was ein einziger Satz bewirken kann
Manchmal reicht ein einziger Satz, um etwas in Bewegung zu bringen. Kein lauter Knall, sondern ein inneres Neuausrichten. Etwas verschiebt sich – fast unmerklich – und doch wird die Welt eine andere. Nicht sofort, nicht vollständig. Aber spürbar genug, um weiterzugehen. Und manchmal trägt dieser eine Satz über Jahre hinweg – wie eine leise, verlässliche Begleitung.
Vielleicht gibt es auch in deinem Leben so einen Satz. Einen, der dich begleitet. Der dich erinnert. Der dich trägt – mitten im Alltag oder mitten im Schmerz.
Mit meiner Blogparade „Ein Satz, der mich trägt – Worte, die Mut machen“ lade ich dich ein, genau diesen Satz mit uns zu teilen. Es muss nichts Großes sein. Kein Zitat aus einem berühmten Buch, keine perfekte Formulierung. Nur ein Satz, der in deinem Inneren nachhallt. Einer, der dir in einem bestimmten Moment Kraft gegeben hat – oder heute noch trägt.
Wenn du mitmachen möchtest: Schreib einen Blogartikel und erzähle von deinem Satz. Von dem Moment, in dem er kam. Oder von dem Weg, den er für dich eröffnet hat. Ich freue mich auf deinen Beitrag. Und auf die vielen leisen, kraftvollen Sätze, die uns verbinden.
Alle Informationen zur Teilnahme findest du hier ⬇️
Liebe Susanne, lieben Dank für deine wertschätzenden Worte. Und ja, Worte wirken, in uns und in anderen. Wir können mit Worten aufbauen oder vernichten, und genau um die aufbauenden Worte geht es ja in meiner Blogparade. Vielleicht magst du ja sogar mitmachen. Das würde mich sehr freuen. Herzliche Grüße, Sylvia
Liebe Marianne, ich freue mich sehr auf deinen Beitrag! ?
Liebe Irina, ja, ich glaube, das kennen viele Frauen, die in der DDR aufgewachsen sind, diese elterliche Warnung vor Fremden. Ist paradox, aber auch meine Eltern haben mir diese Ermahnungen mit auf den Weg gegeben. Was die Tabuisierung in der DDR betrifft, finde ich die Studien der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (https://www.aufarbeitungskommission.de/themen-erkenntnisse/ddr/)sehr spannend. Herzliche Grüße Sylvia
Liebe Silvia,
einen sehr berührenden Artikel hast du geschrieben. Ich konnte deinen Weg so gut nachempfinden. Danke, dass du ihn mit mir geteilt hast. Für mich ist dein Satz wieder ein gutes Beispiel dafür, dass Wort eine Wirkung auf uns haben. Das Worte in uns wirken. In deinem Fall waren sie Balsam für deine Seele. Ich wünsche dir eine wunderschöne Sammlung bestärkender Worte, in deiner Blogparade.
Herzliche Grüße, Susanne
Hallo liebe Sylvia
Wieder ein so authentischer, feinfühliger Artikel von dir. Oh ja, ich kenne diese Sätze, die so tief in einen eingebrannt sind, dass sie nie vergessen werden und genau dann tragen, wenn man droht zu fallen…..
Natürlich kommt demnächst mein Artikel zu deiner Blogparade.
Liebe Grüße
Marianne
Liebe Sylvia,
vielen Dank für deinen so persönlichen Artikel! Wie gut, dass du mit diesem Satz eine Veränderung beginnen konntest. Das Tabu war in der DDR ja nochmal größer, als in der Bundesrepublik. Ich erinnere mich aber an so eine Art „Buschfunk“, wenn es Delikte sexualisierter Gewalt gab. Von meinen Eltern wurde mir dann eingeschärft, auf gar keinen Fall mit Fremden mitzugehen und auch bei den SERO-Sammlungen nie alleine loszuziehen. Offiziell wurden derartige Vorfälle aber nie bestätigt. Natürlich nicht.
Viele Grüße Irina
Liebe Anke, das freut mich sehr, dass mein Beitrag dich nun doch motiviert hat, einen Beitrag zu schreiben. Ich bin sehr gespannt darauf und freue mich auf deine Sätze und deine Geschichte mit ihnen. Ganz herzliche Grüße, Sylvia
Liebe Silvia!
Ein sehr ergreifender Artikel. Ich hatte mir vorgenommen, an deiner Blogparade teilzunehmen. Dann dachte ich, so einen Satz finde ich gar nicht. Aber nach dem Lesen deines Artikels ist mir doch ein Satz bzw. sogar zwei eingefallen, die aber in dieselbe Kerbe schlagen. Nun werde ich mich doch daran machen, einen Artikel zu deinem Thema zu schreiben.