Selbstregulation durch Naturerleben – Wie mir die Natur hilft, mich zu spüren


Es war kein besonderer Tag. Ich hatte wieder einmal zu viel gedacht, zu wenig geschlafen. Mein Kopf war voll und schmerzte, mein Körper unruhig, ich fühlte mich getrieben. Irgendwo zwischen To-do-Liste und innerem Druck meldete sich eine leise Stimme: „Geh raus, geh in die Natur.“ Wie in Trance zog ich mir die Schuhe an und lief einfach los. Der Auwald war still an diesem Tag. Ich ging einen schmalen Pfad an der Pleiße entlang, atmete den Duft von feuchtem Laub, streifte mit den Fingern über die Rinde eines alten Baums. Auf einer sonnenbeschienenen Lichtung folgte ich dem Impuls und legte mich ins Gras. Ich weiß heute nicht mehr, wie lange ich dort geschlafen habe, ein oder zwei Stunden. Aber an das Gefühl nach dem Aufwachen kann ich mich noch gut erinnern: Die Kopfschmerzen waren weg, ich fühlte mich ausgeruht wie schon lange nicht mehr. Entspannt und weich. Ich spürte: Ich bin da. Ich fühlte mich mit jeder Faser präsent, energiegeladen und kraftvoll.

Marianne Kewitsch veranstaltet eine Blogparade zum Thema „Welche Bedeutung hat die Natur in deinem Alltag?“ und als ich das Thema las, fiel mir die obige Erfahrung wieder ein. Nun ist es nicht so, dass ich tagtäglich ein Schläfchen im Wald mache, aber unter freiem Himmel schlafen, ob auf einer Matratze oder in der Hängematte, ist für mich die erholsamste Form von Schlaf. Wie mir die Natur im Alltag hilft, mich selbst zu spüren, mein Nervensystem zu regulieren und warum das auch für dich ein guter Weg sein kann, darüber schreibe ich in diesem Beitrag.

Meine Freundschaft mit Bäumen

See in Neukieritzsch

Eine meiner häufigsten Routen beim Spaziergang führt mich an diesen See in Neukieritzsch

Warum es traumatisierten Menschen so schwerfällt, präsent zu bleiben und wie die Natur dabei helfen kann.

Viele traumatisierte Menschen, auch ich, haben häufig das Gefühl, nicht ganz da zu sein. Nicht, weil wir nicht wollen. Sondern weil unser Nervensystem – oft schon früh im Leben – gelernt hat, dass das Hier und Jetzt ein gefährlicher Ort sein kann. Wenn Bedrohung oder Überforderung wie in meiner Kindheit zur Gewohnheit wurden, ist es eine Überlebensstrategie, innerlich abzuschalten. Zu dissoziieren. Oder sich mit Gedanken zu überfluten, um nichts mehr spüren zu müssen.

Dieses Muster ist intelligent, und es hat mich einst geschützt. Doch im Erwachsenenleben wurde dieses Muster für mich oft zu einem Gefängnis. Ich wollte Beziehung, wollte Verbindung. Doch meine Beziehungen scheiterte, die Verbindung gelang nicht, weil ich mich selbst kaum spürte. Wie sollte ich Nähe zulassen, wenn ich ständig im Überlebensmodus war?

Ohne zu wissen, dass mein Nervensystem ständig in Hab-Acht-Position war, wusste mein Körper schon früh, die heilsame Verbindung zur Natur zu nutzen. Freund:innen hatte ich in Kindheit und Jugend keine – ich war, wie ich bei einem späteren Klassentreffen erfuhr, aufgrund meiner Aufwachsbedingungen für die anderen zu wunderlich, zu unberechenbar. Diese wiederum waren für mich zu gefährlich. Mobbingerfahrungen in der Grundschule hatten mich misstrauisch werden lassen.

Doch auch ein so einsames Kind, wie ich es damals war, sehnt sich nach Freundschaft. Und ich fand Freunde. Die Kastanienbäume gegenüber unserem Wohnhaus wurden zu meinen Vertrauten und zu meiner Zuflucht. Mit und bei ihnen verbrachte ich meine Freizeit. Sie trösteten mich, wenn ich wieder einmal verzweifelt war, und hörten geduldig zu, wenn ich Redebedarf hatte. Später, nach dem Umzug ins Ländliche, wurde die Trauerweide im Garten meine Vertraute, mein sicherer Ort. (Übrigens berührt mich die Szene mit Großmutter Weide aus Pocahontas heute noch) Schon damals nutzte ich unbewusst die Natur, um mich zu trösten und stärken.

In der Natur darf ich sein

Die Natur urteilt nicht. Sie erwartet nichts. Und genau das macht sie meiner Erfahrung nach so heilsam. Viele meiner Klient:innen berichten von innerer Überflutung, vom Gefühl, sich selbst in den Anforderungen des Alltags zu verlieren und von ihrem Wunsch, einfach einmal nichts müssen zu müssen. Traumatisierte Menschen – mich selbst eingeschlossen – haben oft eine sehr feine Wahrnehmung, aber gleichzeitig Schwierigkeiten, sich zu spüren, im Körper zu bleiben, präsent zu sein. Wir fühlen uns schnell überflutet von all den Eindrücken und Anforderungen, die der Alltag an uns stellt. Im Alltag ist das anstrengend – im Inneren oft unerträglich. Und genau hier beginnt für mich die Kraft der Natur.

Denn die Natur bewertet nicht, analysiert nicht, will nichts zurück. Sie ist einfach da. Und gerade für Menschen, die sich oft falsch fühlen, zu viel, zu empfindlich oder zu laut, kann diese stille Gegenwärtigkeit ein heilsamer Spiegel sein. Die Natur schaut nicht auf uns. Sie konfrontiert nicht. Sie stellt keine Diagnose. Aber durch sie fühlen wir uns daran erinnert, dass wir Teil von etwas Größerem sind, dass wir lebendig sind. Und dass wir atmen dürfen. Während Gespräche uns manchmal überfordern, schafft die Natur einen Raum, in dem nichts gesagt werden muss – und trotzdem alles da sein darf.

Während der Alltag uns oft mit Reizen überflutet, bietet die Natur eine komplett andere, auf unsere Sinne ausgerichtete Präsenz. Das Rascheln von Gras oder Blättern, der Geruch feuchter Erde oder der Duft von Blüten. Das Lichtspiel auf einer Wasseroberfläche. Die piksenden Steine unter den nackten Füßen, Wind und Regen auf der Haut, die blendende Sonne. Das ist so viel purer als Worte. So viel körpernäher als Gedanken. Die Natur spricht den Körper, den Atem, die Zellen an und manchmal ist das genau das, was ein verletztes System braucht.

Wasser um mich herum, Wind auf der Haut – es braucht nicht viel, mich lebendig zu fühlen.

Meine Naturrituale im Alltag

Weil ich weiß, wie wohltuend die Natur auf mich wirkt, versuche ich mich so oft es geht im Freien aufzuhalten. Daraus haben sich viele Rituale entwickelt, auf die ich im Alltag zurückgreife.

  • Schreiben im Garten oder auf dem Balkon.
  • Vögel füttern.
  • Vögel beobachten.
  • Barfuß durch den Garten laufen.
  • In der Hängematte liegend, die Wolken beobachten.
  • Pausen nutzen, um 10 Minuten im Wald oder Park zu spazieren.
  • Pflanzen fotografieren.
  • Bäume umarmen.
  • Ans Wasser fahren, mit dem Sand spielen und dem Plätschern lauschen.
  • Mich auf eine Wiese legen.
  • Barfuß im Schnee laufen.
  • Kastanien sammeln.
  • Steine sammeln.
  • Im Regen spazieren gehen.
  • Gänseblümchenketten knoten.

Laufen ist Leben in Echtzeit

Wanderpause bei einer Bergtour in Norwegen

Ich habe das Wandern spät für mich entdeckt. Nicht als Sport. Nicht als Ziel oder Challenge. Sondern als Einladung, mich im eigenen Rhythmus wieder einzuschwingen ins Leben. Für eine Strecke, für die ich mit dem Auto 20 Minuten brauche, laufe ich Stunden. Das ist für mich laufen ist in Echtzeit: mein Tempo, keine Abkürzung. Nur ein Schritt. Dann der nächste.

Beim Wandern bin ich nicht nur unterwegs – ich bin. Anfangs laufe ich ganz schnell, fast gehetzt, will ankommen. Doch je länger der Weg, je mehr ich meine Sinne weite, in mich einlasse, was ich wahrnehme, desto ruhiger werde ich, desto langsamer wird mein Gang. Auch mein Atem wird ruhiger. Und fast jedes Mal beginnt mein Körper zu gähnen. Das sind manchmal regelrechte Gähnorgien. Ich habe das lange nicht verstanden, denn wenn ich müde bin, gehe ich nicht wandern. Das ist zu anstrengend für mich. Inzwischen weiß ich, ich gähne nicht aus Müdigkeit – sondern weil etwas in mir loslässt. Weil mein Nervensystem sich erinnert: Es ist gerade sicher. Du darfst jetzt einfach da sein. Deshalb ist das Gähnen für mich zum Zeichen geworden. Es ist ein Türöffner ins Jetzt und ich liebe es, auch wenn es Mitwandernde sehr irritiert.

Natur als Selbstfürsorge

Wenn ich am Wasser sitze, weiß ich, dass ich existiere. Sylvia Tornau

Diesen Satz habe ich vor vielen Jahren in mein Tagebuch geschrieben. Ich trage ihn in mir. Denn genau darum geht es, bei meinen Begegnungen in der Natur: nicht um das Verstehen. Sondern ums Spüren, ums Dasein, ums Einverstanden-Sein mit dem Moment, ohne dass ich etwas leisten muss. Wenn ich draußen bin, darf mein Körper zuerst ankommen, spüren, lauschen, riechen, sehen – bevor mein Verstand einordnet, sortiert, bewertet. Natur als Selbstfürsorge – nicht als Strategie, sondern als Beziehung.

Für mich ist die Natur kein „Tool“ zur Regulation. Sie ist eine Verbündete. Eine Gefährtin. Wenn ich mich am Flussufer niederlasse, wenn meine Füße Moos berühren oder Wind meine Haut streift, dann ist das keine Technik, sondern eine Rückverbindung. Ich komme in Beziehung mit mir. Mit etwas, das größer ist als ich. Und auch mit meinen verletzten Anteilen.

Manche meiner inneren Stimmen reagieren nicht auf Worte oder kluge Gedanken. Aber sie werden still, wenn ich mich unter einen Baum setze. Wenn ich dem Regen lausche oder einen Stein in die Hand nehme und seine Schwere spüre. Dann darf alles da sein. Dann ist niemand zu viel. Nicht einmal ich. Das ist das größte Geschenk, welches die Natur mir macht, ich muss es nur annehmen.

Und nein, auch ich werde nicht jedes Mal ruhig, wenn ich draußen bin. Auch ich bin manchmal zu voll, zu rastlos, zu getrieben. Aber ich habe gelernt: Die Natur ist da. Ich gehöre zu ihr, ganz ohne Leistung, ohne Erkenntnisse. In der Natur gelingt es mir, gegenwärtig zu sein. In der Natur fühle ich mich lebendig. Ich bin Teil von etwas. Und ich bin – genug.

Ein paar Impulse für deine Naturverbindung

Fockeberg in Leipzig

Mein kleines Dankeschön an dich fürs Lesen. Vielleicht hast du ja Lust bekommen, deine Verbindung zur Natur zu stärken. Ich mag Spielereien und manchmal etwas Unvernünftiges zu tun. Meinen Verstand zum Stöhnen bringen. Vielleicht magst du so etwas ja auch. Es sind „Übungen“, Spiele, die ich immer mal wieder mache, manchmal allein, manchmal mit meiner Enkelin Momo oder mit einer Freundin. Probier es gern aus, spielerisch, ohne Ziel, ohne Anspruch. Versteh die Impulse einfach als Einladung, etwas zu tun, was dein Verstand wahrscheinlich absolut doof findet 😍:

5-Sinne-Spaziergang

Nimm dir zehn Minuten draußen Zeit, um zu bemerken:

  • 5 Dinge, die du sehen kannst
  • 4 Dinge, die du hören kannst
  • 3 Dinge, die du spüren kannst
  • 2 Dinge, die du riechen kannst
  • 1 Sache, die du schmecken kannst

Ein Natur-Ort als sicherer Ort

Erinnere dich an einen Platz in der Natur, an dem du dich geborgen fühltest. Vielleicht aus der Kindheit, aus dem letzten Urlaub oder aus deinem Alltag. Nimm dir Zeit, diesen Ort innerlich zu besuchen – oder ihn wieder aufzusuchen, wenn es möglich ist. Erkläre diesen Ort zu deinem heiligen Ort und markiere ihn als deinen Ort. Pflanze dort etwas ein oder baue eine kleine Steinpyramide.

Kleine Rituale

  • Such dir einen Stein, der dir gefällt. Ihm erzählst du, was dich momentan belastet und legst ihn dann ins Wasser.
  • Lehne dich an einen Baum, sprich mit ihm. Der Baum kann alles tragen, was du nicht mehr tragen möchtest.
  • Wenn du nicht an Heuschnupfen leidest, leg dich in einen Haufen frisch gemähtes Gras und lass dich von dem Geruch betören.

P.S.: Wenn du draußen unterwegs bist, kann sich dein Nervensystem manchmal ganz von selbst beruhigen – wie ein natürlicher Ausgleich. Gähnen, tiefes Atmen, Kribbeln in den Fingern – das alles sind Zeichen, dass dein Körper beginnt zu regulieren.

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2 Kommentare

  1. Sylvia Tornau 1. Juni 2025 um 12:46 Uhr

    Liebe Marianne, es freut mich sehr, dass du meine Beiträge gern liest und dir meine Art zu schreiben gefällt. Und ja, die Natur ist eine Bereicherung und kann Kindern eine Unterstützung sein. Unsere WG-Kinder murren zwar immer, wenn die Kolleg:innen die Worte „wandern“ oder „Ausflug“ in den Mund nehmen, aber dann sind sie doch mit Begeisterung dabei. Ich freue mich immer, wenn die Kolleg:innen so etwas machen und die Kinder dann mit leuchtenden Augen darüber berichten, was sie unterwegs gesehen und entdeckt haben. Liebe Grüße zu dir, Sylvia

  2. Marianne Kewitsch 30. Mai 2025 um 16:57 Uhr

    Liebe Sylvia
    Schön, wie du die Natur in deinem Leben beschreibst. In meiner Kindheit waren es auch die Bäume, Wiesen und Flüsse, die mich magisch anzogen und wo ich mich geborgen fühlen konnte. In der heutigen Zeit fehlt vielen Kindern diese Verbindung zur Natur, weil sie zu viele Termine haben oder abgelenkt sind von der digitalen Welt. So vielen Kindern könnte die Natur eine wahre Hilfe und Bereicherung sein.
    Interessant, mit dem häufigen Gähnen in der Natur. Oft lösen sich belastende Energien auf diese Weise ganz sanft.
    Hätte ich einen See wie in Neukieritzsch, dann würde er garantiert zu einem meiner Lieblingsorte.
    Du hast eine wundervolle Art zu schreiben, ich lese deine Artikel immer sehr gerne. Danke, für deine Beteiligung an meiner Blogparade.
    Alles Liebe
    Marianne

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Ich bin Sylvia, systemische Therapeutin, Trauma-Coach und Bloggerin. Die menschliche Psyche und die Frage „Warum ticken wir, wie wir ticken“ treibt mich schon seit meiner Jugend an. Heute unterstütze ich Frauen dabei, alte Prägungen loszulassen, ihre Emotionen zu regulieren und im eigenen Leben zu Hause zu sein.

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