Trauma ist politisch: Warum Schweigen keine Option mehr ist
Ich behaupte: Trauma ist politisch.
Die Reaktionen darauf:
„Ach, Trauma … das ist doch Privatsache, oder?“
„Trauma? Ach, das hatten wir früher auch – wir haben es nur nicht so genannt.“
„So was muss man einfach mal loslassen, hinter sich lassen.“
„Andere hatten es viel schlimmer.“
„Jetzt übertreib mal nicht – du lachst doch sonst auch so viel.“
„Das ist doch so lange her, irgendwann muss es auch mal gut sein.“
So klingt er in meinen Ohren, der gesellschaftliche Chor der Bagatellisierung. Scheinbar freundlich zugewandt und wohlmeinend, aber jeder Ton eine quietschende Säge, eine Erschütterung im Nervensystem derer, die wirklich wissen, was es heißt, mit Traumafolgen zu leben.
Trauma ist weder Lebensstil noch Lebensphase. Es ist ein Drama für die Person, die traumatisierenden Situationen ausgesetzt war und vor allem, es ist eine Realität. Eine Wunde im System, nicht nur im individuellen, sondern auch im Gesellschaftlichen. Und doch bleibt das Thema Trauma oft dort, wo es aus den Augen ist, im Schatten, im Individuellen, im „Rand“ der Gesellschaft. Weil es diese Mechanismen gibt, behaupte ich: Trauma ist politisch.
Du bezeichnest dich selbst als „traumatisiert“? Dann bist du in den Augen vieler Mitmenschen wahrscheinlich ein Schwächling oder eine Nervensäge, ein ewiges Opfer. Nicht stark genug für dieses Leben. Oder, wie es mir gegenüber esoterisch feinfühlig geäußert wurde: „Dann hast du wohl ein schlechtes Karma, schließlich suchen wir uns vor der Geburt unsere Eltern aus.“ (Keine Sorge, meinem Impuls, der Dame, die mir dies mit feinem Lächeln im Gesicht sagte, die Faust in selbiges zu schlagen, folgte ich nicht, obwohl es für den Moment sicher sehr befriedigend gewesen wäre.)
Dieser Beitrag wurde angeregt durch die Blogparade „Gesellschaft & Trauma – Der blinde Fleck einer ganzen Kultur“ zu der Die Nikas noch bis zum Sonntag, 22.06.2025, einladen.
Trauma als Randerscheinung – Wie die Gesellschaft Trauma auslagert
Trauma ist unbequem. In erster Linie für die Menschen, die unter Traumafolgen leiden. Aber auch für die Gesellschaft, die sich nicht mit diesem Thema auseinandersetzen will. Trauma nervt. Denn das Thema wirft Fragen auf, die keine einfachen Antworten dulden:
- Was heißt Sicherheit, wenn du dein eigenes Zuhause fürchtest?
- Was passiert mit einer Gesellschaft, die Empathie delegiert, aber nicht lebt?
- Wem wird geglaubt und wem nicht? Und warum?
- Muss Schmerz messbar sein, um anerkannt zu werden?
- Was ist Rechtsprechung wert, wenn sie retraumatisiert?
- Warum werden Täter:innen geschützt und die Opfer physischer, psychischer und sexueller Gewalt marginalisiert?
- Wie viele Ressourcen verschwenden wir, indem wir Menschen reparieren wollen, statt sie zu verstehen?
- Wo hört die Schuld der Täter:innen auf und wann beginnt die Verantwortung der Gesellschaft?
- Was bedeutet Fürsorge, wenn Betroffene erst dann Hilfe bekommen, wenn sie nicht mehr funktionieren?
Mit solchen Fragen können wir nicht gemütlich am Sekt nippen oder das abendliche Bierchen schlürfen. Auch deshalb schieben wir das Thema Trauma an den Rand des gesellschaftlichen Bewusstseins und nicht selten an den Rand der Gesellschaft. Menschen mit komplexen Traumafolgen landen häufiger in Sozial-Systemen, Psychiatrien, Behindertenwerkstätten oder gar Gefängnissen. Diese Menschen werden oft strukturell ausgegrenzt. Doch das Bild trügt: Gewalt und ihre Folgen gibt es in allen Schichten der Gesellschaft. Auch deshalb wird Trauma individualisiert und psychologisiert. Deshalb kennt unsere Sprache für das, was die unter Traumafolgen Leidenden erleben, keine Begriffe oder nur pathologisierende.
Und während die Gesellschaft ignoriert, vertuscht und wegsieht, bleiben die Verhältnisse unangetastet: das Schweigen in den Familien, der Missbrauch in der Kirche, die Gewalt in Institutionen – all das scheint besser verdaubar oder konsumierbar, wenn wir es als tragische Einzelfälle betrachten.
Ich habe als Kind gelernt: Sprich nicht. Es glaubt dir eh niemand. Also fand mein Körper andere Wege, dem Schmerz und der Wut Ausdruck zu verleihen. Sylvia Tornau
Kleiner Exkurs: Was Trauma wirklich ist
Es gibt viele Definitionen, die beschreiben, was Trauma eigentlich ist, und so hilfreich diese Definitionen sein mögen, wirken sie doch häufig abstrakt.
Für mich persönlich ist Trauma die Summe:
- Der Momente, in denen ich aufgehört habe, zu spüren, weil es sonst nicht auszuhalten war.
- Des geistigen Entgleitens, während mein Körper Dinge erlebte, die ich nie erleben wollte.
- Der Zweifel, ob ich überhaupt etwas fühlen darf, ob ich überhaupt leben darf.
- Von Nächten, in denen ich wach lag, weil mein Körper wusste, dass nachts die Gefahr am größten ist.
- Der Alarmbereitschaft, mit der mein Körper auf bestimmte Stimmen, Gerüche, Blicke oder Worte reagierte.
- Der Erkenntnis, dass ich nicht einfach Vertrauen lernen konnte, weil ich zuerst entlernen musste, dass Nähe gefährlich ist.
Traumafolgen sind nicht sichtbar, durchdringen aber alles: meine Beziehungen, meine Entscheidungen, mein Bild von mir selbst. Da gab es die Angst, zu viel zu sein oder nicht genug. Und es gab das Misstrauen gegen mein eigenes Erleben, gelernt in einer Welt, die lieber wegschaut.
Was ich erlebt habe, war Gewalt. Alle Formen von Gewalt. In der Familie, in der Schule, im Freundeskreis, in der Ausbildung und zum letzten Mal vor über 35 Jahren in der Beziehung zum Vater meiner Tochter. Jede dieser Gewalterfahrungen war ein Schockmoment. Durch die Häufigkeit trat keine Gewöhnung ein, die Häufigkeit machte es nicht weniger schlimm.
All das war schmerzhaft und für mich als Kind / Jugendliche nicht verstehbar. Doch ich habe es überlebt. Aber was meine Psyche nachhaltig verwirrt hat, war das Schweigen danach. Das Nichtglauben und Bagatellisieren. Die Täter-Opfer-Schuldumkehr.
Trauma ist nicht das Ereignis selbst, sondern das, was in uns zurückbleibt, wenn wir mit dem Erlebten allein bleiben: die Ohnmacht, das Erstarren, das Getrenntsein von anderen, weil niemand da war, der gehalten, geglaubt und geschützt hat. Sylvia Tornau
Was mich wütend macht – Teil 1
Mich macht wütend, dass:
- Ich in einer Gesellschaft lebe, die Täter:innen schützt, durch Schweigen, durch Zweifel, durch verharmlosende Sprache.
- Nicht die Gewalt das Skandalöse ist, sondern die Tatsache, dass man sie ausspricht.
- Ich als Betroffene von sexualisierter Gewalt freundlich und sachlich bleiben soll, damit niemand unangenehm berührt wird.
- Ich zum Problem werde und die Gesprächsatmosphäre ruiniere, wenn ich benenne, was war.
- Menschen mit komplexen Traumafolgen in Behörden, Schulen, Kliniken nach wie vor als „schwierig“ gelten, statt als Menschen mit Geschichte, Schmerz und Würde.
- Sich Betroffene entweder für immer krankschreiben lassen und aus der Funktionsgesellschaft verschwinden oder sich als „inspiriertes Vorbild“ inszenieren sollen.
- Überleben keine gesellschaftlich akzeptierte Lebensform ist, sondern eine Störung, die gemanagt, geheilt werden muss.
- Es keine echte Sprache für das gibt, was passiert, wenn dein Körper und deine Seele schreien, aber niemand hinhört.
- Ich mich auf die Opferrolle reduzieren soll, wenn ich über das Geschehene sprechen will.
- Die Zahl der angezeigten Sexualdelikte wie Nötigung, Vergewaltigung, sexueller Missbrauch jährlich steigt (Höchststand 2024 128.000 Fällen – hohe Dunkelziffer) und fast immer trifft es Frauen.
- Im Jahr 2025 in unserer modernen und aufgeklärten Gesellschaft jeden dritten Tag eine Frau von ihrem Partner, Ex-Partner, einem Mann aus ihrem unmittelbaren Umfeld ermordet wird (Tendenz steigend).
- Femizide nur selten als solche anerkannt und benannt werden – das sind keine Beziehungstaten!
An dieser Stelle wiederhole ich meinen Fluch vom Februar 2024:
Ich verfluche euch, ruchlosen Männer! Möget ihr, die ihr euch an Frauen und Mädchen vergeht, auf ewig unfruchtbar werden, sodass sich eure finsteren „Gaben“ nicht länger von Generation zu Generation vererben. Möget ihr Männer, die ihr euch über Frauen erhebt und sie quält, langsam und qualvoll bei lebendigem Leib in euren Körpern verrotten. Siechen sollt ihr ab heute und immerdar. Der Schmerz soll sich durch euren Körper fressen und nicht enden, bis zu jenem Tag, an dem ihr zur Vernunft kommt oder sterbt! Sylvia Tornau
Wie das Schweigen über Trauma wirkt
Ich war vielleicht zehn, als ich zum ersten Mal begriff, dass es Dinge gibt, über die man in unserer Familie nicht spricht. Weil sie zu schmerzhaft, schambesetzt und entlarvend waren. Damals stand ich mit meiner Mutter in der Küche, der Geruch von gebratenem Ei lag in der Luft, und ich hörte, wie sie zu mir sagte: „Du musst auch mal vergessen können.“ Ich hatte nichts gefragt, hatte mich nur heftig erschrocken, als ihr die Gabel aus der Hand fiel.
Später, ich war vielleicht vierzehn, erzählte ich ihr, dass mein Vater mich immer so komisch berührte. Ihre Reaktion: „Ach, das meint der doch nicht so.“
Es waren diese Momente, in denen ich begriff: Schweigen ist nicht nur das, was nicht gesagt wird. Es ist die ganze Atmosphäre. Dieses Schweigen hat mir beigebracht, dass meine Wahrnehmung falsch ist, dass ich übertreibe und meine Angst unbegründet ist. Damit begann für mich das innere Schweigen und die Entfremdung vom eigenen Empfinden. Die Selbstzensur und die Abkehr vom eigenen Körper.
Noch später habe ich gelernt: Schweigen schützt nicht. Es lähmt. Es schützt nicht die Betroffenen, sondern die Täter:innen und die, die nicht hinsehen wollen. Aus dem Schweigen entsteht nicht selten eine weitere schmerzhafte Traumafolge: die der Unsichtbarkeit.
Im Folgenden gehe ich auf die verschiedenen Arten des Schweigens ein, die mir im Laufe meines Lebens begegnet sind.
Das innere Schweigen – Wenn Worte fehlen, weil niemand sie hören will
Manchmal beginnt das Schweigen gar nicht da, wo andere nichts sagen, sondern da, wo ich selbst nichts sagen kann. Nicht, weil ich es nicht wollte, sondern weil mir die Worte fehlten und ich irgendwann aufgehört hatte zu glauben, dass jemand zuhört.
Ich habe früh gelernt, still zu sein. Mich zu Hause unauffällig zu machen. (Dafür tobte und wütete ich im Außen) Ich lernte gleichzeitig Gefühle herunterzuschlucken, Bedürfnisse zu ignorieren und Empfindungen wegzusperren. Das war die Zeit, in der ich verstanden hatte: Wenn ich meine Wahrheit ausspreche, bringt das keine Sicherheit, sondern oft noch mehr Schmerz, nicht selten in Form von Schlägen.
Das innere Schweigen war für meine Entwicklung sehr hinderlich. Weil es wie ein Echo der Vorhaltungen der Außenwelt klang, weil es Zweifel streute, am Gefühlten und Erlebten und sich diese Zweifel irgendwann wie Wahrheit anfühlten: „Ich übertreibe.“ „Ich bilde mir das ein.“ „Ich muss mich einfach zusammenreißen.“ Solange ich schwieg, war alles Unbehagen, aller Schmerz mein persönliches Versagen. Niemand anderes war verantwortlich. Mit meinem Schweigen blieb ich gefangen, im Zweifel gegen mich selbst.
Das familiäre Schweigen – Loyalität, die krank macht
In meiner Familie wurde nicht über das Wesentliche gesprochen. Nicht zwischen den Eltern und uns Kindern, aber auch nicht zwischen uns Kindern. Wir sprachen nicht über die Gewalt, über das, was weh tat. Es war so und auch wenn es sich in mir falsch anfühlte, war es leicht, mir einzureden, dass mit unserer Familie alles in Ordnung sei, dass meine Wahrnehmung falsch sei. Mein kindliches Verständnis konnte damals nicht unterscheiden zwischen „meine Wahrnehmung ist falsch“ und „ich bin falsch“. Also wuchs ich in dem Glauben auf, ich sei falsch.
Die Sprache dieser Familie war das Wegsehen, Bagatellisieren und die Schuldumkehr: „Das bildest du dir ein.“ „Was sollen denn die Nachbarn denken?“ „Du bist doch Vaters Liebling.“ „Das machen doch alle Väter mit ihren Töchtern.“
Erst später, als ich verstand, worüber wir all die Jahre miteinander und aneinander vorbei geschwiegen hatten, wusste ich: Wenn ich das Schweigen breche, durchbreche ich ein ungeschriebenes Gesetz. Und das kostete mich Beziehungen, Zugehörigkeit und Illusionen. Doch zu diesem Zeitpunkt wusste ich auch schon, dass es mich noch mehr kostet, wenn ich das Schweigen weiter halte: meine Identität, mein Vertrauen in mich selbst und wenn ich Pech habe und einer meiner Suizidversuche gelingt, kostet es mich das eigene Leben.
Ich habe mich für meine Wahrheit entschieden und gegen die familiäre Fassade und Scheinverbundenheit. Um sprechen zu können und mich emotional nicht weiter verwirren zu lassen, habe ich mich von meiner Ursprungsfamilie getrennt.
Schweigen beginnt nicht mit der Entscheidung, nichts zu sagen. Es beginnt mit der Erfahrung, dass Gesagtes nicht zählt, nicht ernst genommen wird. Sylvia Tornau
Das gesellschaftliche Schweigen – Die Unsichtbarkeit der Gewalt
Trauma ist überall, aber kaum jemand sieht hin. Es steckt in Statistiken, Aktenordnern und nach Aufmerksamkeit heischenden Schlagzeilen. Dabei wirkt es in Körpern, an Küchentischen, in Wartezimmern. Und doch bleibt es ein Randthema. Wir leben in einer Gesellschaft, die lieber Tätergeschichten analysiert als Opfern zuhört. In der ein Mensch eher gefragt wird, warum er/sie so „empfindlich“ ist, als sich mit dem Kontext auseinanderzusetzen, der sie/ihn zermürbt.
Die Talkshows laden Therapeut:innen ein, aber kaum Betroffene (obwohl sich das langsam ändert). Die Sprache in den Medien verharmlost Femizide als: „Familiendrama“, „Eifersuchtstat“, „Einzelfall“. Aber sexuelle und körperliche Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist kein Einzelfall. Sie ist strukturell eingewoben in Machtverhältnisse, Genderrollen, Klassenzugehörigkeit etc.
Und während es inzwischen kaum noch Tabus in unserer aufgeklärten westlichen Gesellschaft gibt und man über alles spricht – psychische Gesundheit, Mental Health, Achtsamkeit – bleibt das Sprechen über komplexe Traumafolgen und sexuelle Gewalt ein Minenfeld. Ehemaligen Opfern von Gewalt werden in der Öffentlichkeit zwei Rollen zugestanden: die des Opfers oder die der Heldin/des Helden. (Es gibt ein paar wenige Ausnahmen, zum Beispiel in der Arte-Dokumentation: „Wie leben mit dem Kindheitstrauma?„). Sehr deutlich wird dies anhand der Anfeindungen, denen Natascha Kampusch ausgesetzt war, weil sie sich in den Augen der Hater:innen nicht in diese Erwartungen fügte.
Das professionelle Schweigen – Wenn Helfende nicht helfen können
Auch in psychosozialen Berufen gibt es Schweigen, aus ganz unterschiedlichen Gründen: weil es an Zeit, Wissen oder Haltung fehlt. Oder auch, weil die Therapeut:innen Angst haben vor dem Thema, eigene blinde Flecken. Ich habe dieses Schweigen in der DDR, in der es offiziell keine sexuelle Gewalt gegen Kinder gab, erlebt und später als Klientin, Kollegin und Dozentin.
Die Angst, etwas „falsch zu machen“, verhindert oft echtes Zuhören und Präsenz ohne Bewertung. Nicht selten wird der traumatisierte Mensch auf die Symptome reduziert, die sich zeigen, wie Dissoziation, Selbstverletzung, Angst, Depression oder unangepasstes Verhalten. Nehmen die Klient:innen die angebotenen Interventionen nicht an, ist schnell die Rede vom Widerstand gegen die Therapie. Selten fragen professionelle Schweiger:innen, was diese Reaktionen bedeuten. „Wovor schützen sie oder was ging ihnen voraus?“ Und noch seltener fragen sie: „Was brauchst du, um dich sicher zu fühlen, in unserer Zusammenarbeit?“
Doch es gibt Hoffnung. Das Thema Trauma ist in Fachkreisen längst kein Randthema mehr, und das Wissen darüber verbreitet sich. Es gibt unzählige Aus- und Weiterbildungen dazu. Dennoch bleibt es wichtig, wachsam zu bleiben für das, was in mir selbst vor sich geht, und zu überprüfen, ob ich den Lebensgeschichten, dem Schmerz und den Lösungsversuchen der Menschen, die zu mir kommen, gewachsen bin. „Bin ich sicher genug in mir, um anderen einen Raum der Sicherheit zu öffnen?“
Das politische Schweigen – Wenn Strukturen versagen
Aus meiner Sicht fehlt es in unserem Land am politischen Willen, etwas für die Betroffenen zu tun. Ein Umdenken weg vom Täter:innenschutz hin zu wirklichem Opferschutz. Die Themen sind unbeliebt, was bei der männlichen Dominanz in der Regierung kein Wunder ist, geht es doch schließlich vorrangig um „Frauenthemen“. Dabei dürften die Statistiken auch in der Politik bekannt sein, die besagen, dass vor allem Frauen Opfer von häuslicher und sexueller Gewalt werden. Kein Wunder also, dass Vergewaltigung in der Ehe erst seit 1997 strafbar ist. Es fehlt noch heute an der Bereitschaft, vorhandene Schutzkonzepte umzusetzen, an wirksamen Gesetzen und an der Konsequenz, die gesetzlichen Rahmen auszuschöpfen. Es fehlt an geschultem Personal in Ämtern und Behörden.
Auch das 2025 verabschiedete Gewalthilfegesetz ist momentan nicht mehr als ein erster Schritt in die richtige Richtung. Der Rechtsanspruch auf Schutz und Beratung bei geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt für Frauen und ihre Kinder tritt am 1. Januar 2032 in Kraft. Bis dahin bieten überfüllte Frauenhäuser kaum wirksamen Schutz. Keinen Schutz gibt es vor Ausführung einer Gewalttat, selbst dann nicht, wenn sie angekündigt wird. Für die Betroffenen heißt es dann: Pech gehabt. Denn noch immer werden gewalttätige Expartner nicht ausreichend überwacht. Noch immer landen Betroffene in der Beweislast, müssen sich rechtfertigen. Noch immer stehen Betroffene in Therapie-Warteschlangen. Was es braucht, machen uns Länder wie Italien und Spanien vor: politische Klarheit; elektronische Fußfesseln für Stalker und Täter:innen; Schutzräume, die nicht voll, sondern verfügbar sind.
Was mich wütend macht – Teil 2
Was mich wütend macht, ist nicht nur das, was mir passiert ist, sondern auch das, was danach nicht passiert ist. Es ist das, was Mädchen und Frauen bis heute passiert:
- Lehrer:innen, Nachbar:innen, Freund:innen und Verwandte, die wegschauen.
- Therapeut:innen, die Gewalt-Geschichten in Diagnosen pressen.
- Menschen, die sagen: „Das merkt man dir gar nicht an, du wirkst doch so stark.“ „Also, mir wäre das nicht passiert.“
- Eine Gesellschaft, die Trauma zur Privatsache erklärt, als wäre es ein Makel im Lebenslauf, den man am besten verschweigt.
- Der Stempel seelisch belastet in Akten geschrieben, als wäre ein traumatisierter Mensch eine Störung im System und nicht das Ergebnis eines Systems, das nicht schützt.
- Wenn Betroffene schweigen müssen, um irgendwo dazugehören zu dürfen.
Ich bin bei klarem Verstand, müde, aber nicht resigniert. Meine Wut hilft mir, all die Ungerechtigkeiten auszuhalten. Sie ist nicht mehr überbordend heiß, aber sie ist noch da, wie ein Stachel, der mich motiviert weiterzumachen. Zu reden, zu schreiben, zu protestieren. Meine Wut ist die Schwester meiner Würde. Und manchmal meine Kraftquelle. Sylvia Tornau
Darum behaupte ich: Trauma ist politisch
Trauma entsteht nicht im luftleeren Raum, sondern in einem gesellschaftlichen Gefüge, das Gewalt zulässt, schweigend begleitet oder systematisch übersieht, weil es Strukturen sind – nicht nur einzelne Täter –, die wegsehen, verharmlosen und Gewalt ermöglichen. Trauma wirkt fort, wo Institutionen nicht schützen, sondern versagen. Politisch wird Trauma auch dann, wenn Betroffene allein gelassen werden, mit der Last der Aufarbeitung, mit dem Stigma und mit der Verantwortung für ihre Genesung. Weil Betroffene oft nicht an sich selbst scheitern, sondern an einem System, das ihnen keinen sicheren Ort bietet. Politisch wird Trauma auch dann, wenn Gesetze, Medien und Bildungsstrukturen nicht auf die Realität von Betroffenen ausgerichtet sind. Weil es nicht reicht, über Selbstheilung zu sprechen, wenn nicht gleichzeitig über Wohnungslosigkeit, Armut, patriarchale Gewalt oder medizinische Unterversorgung gesprochen wird. Schweigen schützt die Strukturen und nicht die Menschen. Deshalb braucht es eine Sprache, die aufdeckt, nicht zudeckt, und eine Gesellschaft, die nicht nur Mitgefühl zeigt, sondern Verantwortung übernimmt.
Trauma ist politisch, weil jede Biografie in einem gesellschaftlichen Rahmen entsteht. Und weil die Frage, wie wir mit Verletzlichkeit umgehen, nichts weniger ist als ein Gradmesser für unsere Menschlichkeit.
Was sich ändern muss – Meine Forderungen an die Gesellschaft
1. Ein neues Sprechen über Gewalt und ihre Folgen
Trauma darf nicht länger ein Randthema bleiben. Wir brauchen eine Sprache, die nicht bagatellisiert, sondern benennt. Eine Sprache, die Gewalt nicht als „Familiendrama“ verharmlost, sondern Strukturen sichtbar macht, in denen Gewalt entsteht. Wir müssen endlich anerkennen: Gewalt ist nicht privat. Sie ist politisch.
2. Gesetze, die schützen, bevor es zu spät ist
Es braucht Gesetzesänderungen, die tätliche Gewalt und Stalking nicht erst dann ernst nehmen, wenn es zu Spätfolgen kommt oder zu spät ist. Elektronische Fußfesseln für Stalker und gewalttätige Expartner:innen sind kein „Luxus“, sondern lebensnotwendig. Schutz muss präventiv sein, nicht reaktiv.
3. Eine Justiz, die nicht traumatisiert
Gerichtsräume müssen Schutzräume werden. Betroffene dürfen nicht durch wiederholte Aussagen retraumatisiert oder durch „mangelnde Glaubhaftigkeit“ abgewertet werden. Es braucht Trauma-informierte Schulungen für Richter:innen, Polizist:innen, Anwält:innen und Sachverständige. Und es braucht ein Verbot von Fragen, die die Schuld umkehren („Was hattest du an?“ „Warum bist du mitgegangen?“).
4. Mehr Geld für Prävention und Versorgung
Psychische Gesundheit darf nicht länger von Wohnort oder Geldbeutel abhängen. Traumatherapie braucht Zeit, Fachwissen und Kontinuität und genau daran fehlt es oft. Die Krankenkassen müssen traumasensible Therapien in ausreichender Zahl finanzieren. Und es braucht aufsuchende Hilfen, vor allem in ländlichen Räumen.
5. Eine Sprache in den Medien, die nicht beschämt
Journalist:innen müssen Verantwortung übernehmen. Keine Mitleidsgeschichten für Klickzahlen. Keine reißerischen Titel auf Kosten von Betroffenen. Medienberichte müssen Trauma-informiert und menschenwürdig sein. Betroffene sind nicht nur „Opfer“, sondern auch Zeug:innen von Ungerechtigkeit und vor allem Menschen, die mehr sind als ihre Traumaerfahrung.
6. Mehr Sichtbarkeit für komplexe Traumafolgen
Traumafolgen sind vielschichtig: Bindungsschwierigkeiten, Dissoziation, Selbstverletzung, emotionale Taubheit, Hypervigilanz. Es reicht nicht, PTBS als „Standardfolge“ zu kennen. Die Gesellschaft muss lernen, dass Trauma viele Gesichter hat und dass diese Reaktionen normale Antworten auf unnormale Situationen sind. Jeder Mensch geht anders mit Trauma um, es gibt kein richtiges oder falsches „Opferverhalten“.
7. Bildung, die nicht traumatisiert
Traumasensibilität muss Teil der Lehramtsausbildung werden. Lehrer:innen müssen lernen, wie sie sichere Bindung gestalten, eskalierende Situationen entschärfen und Schüler:innen sehen, ohne zu pathologisieren. Kinder brauchen Schutzräume, nicht Leistungsdruck.
8. Eine Gesellschaft, die zuhört – auch wenn’s unbequem ist
Wir brauchen Begegnungen auf Augenhöhe. Hinhören statt Wegsehen. Glauben statt Zweifeln. Es reicht nicht, Betroffenen zuzuhören, wenn sie „funktionieren“. Wir müssen ihnen zuhören, wenn sie wütend sind, leise werden, stottern, Pausen brauchen oder keine Worte finden.
9. Männer, die sich einmischen
Es braucht männliche Verbündete, die in ihrem Freundeskreis nicht schweigen, wenn übergriffige Witze erzählt oder frauenverachtende Haltungen verbreitet werden. Die sich positionieren, auch wenn es unbequem ist. Und die Betroffene nicht auf ihren „Opferstatus“ reduzieren, sondern als handelnde Subjekte achten.
10. Gesellschaftliche Verantwortung statt individueller Bewältigung
Die Frage darf nicht länger lauten: „Wie geht die/der Einzelne mit ihrem Trauma um?“ Sondern: „Was tun wir als Gesellschaft, damit solche Traumata nicht mehr entstehen?“ „Was brauchen die Menschen, die in unserer Mitte Gewalt erleben mussten?“ Die Verantwortung für Heilung darf nicht allein auf die Schultern der Verletzten gelegt werden. Wir brauchen kollektive Auseinandersetzung, kollektive Verantwortung und kollektiven Schutz und Berücksichtigung von Traumafolgen in Form von Renten, finanziellen Hilfen und ausreichenden Therapiemöglichkeiten.
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