Die Arbeit mit inneren Anteilen in Therapie und Coaching

Ertappst du dich manchmal bei Selbstgesprächen? Egal, ob du laut mit dir sprichst oder der Dialog ausschließlich in deinem Kopf stattfindet, bewusst oder unbewusst, wir alle haben verschiedene Stimmen in uns oder, wie Therapeut*innen und Coaches sie nennen: die inneren Anteile. Die eine rät dir dazu, dir endlich ein Haus zu kaufen, diese oder jene Ausbildung zu machen, das neue Jobangebot anzunehmen, dich endlich von deiner Partnerin zu trennen und kaum gedacht, meldet sich in dir eine andere Stimme (in Form von konkreten Worten oder in Form eines körperlichen Unbehagens). Du fühlst dich aufgrund all der widerstreitenden Worte und/oder Empfindungen hin- und hergerissen, bist kaum in der Lage noch eine Entscheidung zu treffen.

Oder du ertappst dich dabei, wieder einmal „Ja“ zu sagen, statt des „Nein“ welches da auch in dir rumort. Nach einem Streit schämst du dich, weil dir deine Reaktion im Nachgang so unangemessen erscheint. Dir fehlt ein Stück weit die Kontrolle über deine Gefühle. Hier kann dich die Arbeit mit deinen inneren Anteilen unterstützen, denn dies ist ein Weg zur emotionalen Selbstregulation. Es spielt dabei keine Rolle, wie du das ganze nennst, ob Trauma-Muster, Kindheitsmuster, Reaktionsmuster oder innere Anteile, wichtig ist, deinen eigenen Weg zu finden. Denn wenn du ständig überreagierst oder gar nicht reagierst, deine Entscheidungen permanent hinterfragst, hat das Auswirkungen auf deine psychische Gesundheit, dein Wohlbefinden und auf deine Beziehungen. Ein aus meiner Sicht sehr kreativer Weg zu mehr Verständnis für dich selbst ist die Arbeit mit inneren Anteilen.

Was sind innere Anteile?

Innere Anteile sind unterschiedliche Teile von uns selbst, die in bestimmten Situationen zum Vorschein kommen. Vielleicht hast du schon einmal erlebt, dass ein Teil von dir eine Sache auf eine bestimmte Weise erledigen möchte, während ein anderer Teil davon völlig abgeneigt ist. Ein Teil drängt dich dazu Sport zu machen, während ein anderer Teil dies kategorisch ablehnt. Dies sind innere Anteile, die gelegentlich einen internen Konflikt in dir erzeugen können.

Innere Anteile sind „verkörperte“ Reaktionsmuster. Muster, die in einer bestimmten Situation, einem bestimmten Alter entstanden sind. „Verkörpert“ meint, wenn ich mich mit diesem Muster beschäftige, herausfinde, wann und in welcher Situation es entstanden ist, dann kann ihm einen Namen oder eine Beschreibung geben.

Wie entstehen innere Anteile?

Innere Anteile entstehen größtenteils durch Lebenserfahrungen. Dabei spielen insbesondere Erfahrungen aus der Kindheit eine entscheidende Rolle. Nach der Theorie der inneren Anteile (oft auch als „Parts Work“ oder „Internal Family Systems“ bezeichnet) repräsentieren die inneren Anteile unterschiedliche Aspekte und Anpassungsstrategien, die du während deiner Kindheit und Jugend entwickelt hast. Weil diese damals so hilfreich waren, haben sie sich als Verhaltensmuster (Konditionierung) in dir gebildet.

Vielleicht hast du als Kind gelernt, dass es besser ist, ein „braves“ Kind zu sein, weil, wenn du nicht „brav“ warst, die Erwachsenen dir ihre Enttäuschung sehr deutlich gezeigt haben, oder dich schlimmstenfalls gar bestraft haben. Etwas in dir hat entschieden, es ist besser (= dein Überleben als abhängiges Kind sichernd) dich so zu verhalten, dass dir die Zuneigung deiner Bezugspersonen nicht verloren geht. Heute ertappst du dich dabei, nur selten „Nein“ sagen zu können.

Das liegt daran, dass der Anteil in dir, der sich die Zuneigung anderer erhalten will, immer noch sehr aktiv ist. Dieser Anteil hat sich nicht weiterentwickelt, er ist auf dem Entwicklungsstand des Kindes, welches dieses Anpassungsmuster gelernt hat. Das ist der Grund, dass du heute in einer ähnlichen Situation so wie damals reagierst.

Wie beeinflussen diese inneren Anteile unser Alltagsleben?

Jeder innere Anteil hat seine eigene Perspektive und Überzeugungen, die dein Verhalten, deine Entscheidungen und deine Gefühle in bestimmten Situationen beeinflussen. Sie können dich also sowohl bewusst als auch unbewusst lenken. Ein Verständnis für diese Anteile/ Muster und die Arbeit mit den inneren Anteilen können helfen, zu verstehen, warum du in bestimmten Situationen immer wieder Verhaltensweisen zeigst, die du doch längst als nicht hilfreich identifiziert hast.

Die Beziehung zwischen inneren Anteilen und Kindheitsmustern ist eng. Viele innere Anteile entstehen als Reaktion auf schwierige oder schmerzhafte Erfahrungen in der Kindheit. Sie dienen als Schutz- oder Anpassungsmechanismen, um mit diesen Erlebnissen umzugehen oder sie zu bewältigen. Dieselbe Aufgabe haben sie noch heute. Deshalb ist es wichtig, sie zu identifizieren, denn nur so können sie sich entwickeln und an das Heute anpassen.

Du kommst nach Hause und es ist miese Stimmung. Was löst das in dir aus? Fluchtimpulse? Wut? Neugier? Wie reagierst du darauf? Deine eigene Reaktion zu erkennen, ist der wichtigste Schritt in der Arbeit mit deinen inneren Anteilen.

Mit den folgenden Schritten identifizierst du deine Muster/Anteile

  • Durch die Beobachtung deiner Reaktion auf solche Alltagssituationen kannst du deine Reaktionsmuster erkennen.
  • Frage dich, in welche Geschichte du deine Reaktion verpackst. Wie begründest du sie vor dir selbst? Stimmt das, was du dir da erzählst?
  • Welches Gefühl steckt in deiner Reaktion?
  • Erinnere dich, wann in deiner Vergangenheit hast du schon einmal so reagiert?
  • Erinnerst du dich daran, wie alt du warst, als du angefangen hast, so zu reagieren? In welcher Situation war das? Wer war da mit dir zusammen? Was wolltest du damals mit dieser Reaktion erreichen?
  • Jetzt komm zurück ins Heute: Frage dich, was du heute mit dieser Reaktion erreichen wolltest. Hat es so geklappt? Hast du erreicht, was du erreichen wolltest?

Wie bei jeder anderen Form der Selbstbeobachtung und Selbstbefragung gilt auch hier: Bewerte dich nicht. Bewertung ist Gift.

Welche Konzepte zur Arbeit mit inneren Anteilen gibt es und wie unterscheiden sie sich voneinander?

Es gibt verschiedene Konzepte zur Arbeit mit inneren Anteilen, darunter Internal Family Systems (IFS), Ego-State-Therapie, Voice Dialogue, die Arbeit mit dem inneren Team oder auch die Arbeit mit dem inneren Kind. Obwohl diese Ansätze Unterschiede in Methodik und Theorie aufweisen, teilen sie das grundlegende Verständnis, dass die innere Welt eines Menschen aus unterschiedlichen Anteilen besteht. Im Folgenden gehe ich auf einige Beispiele ein.

Internal Family Systems

Die Internal Family Systems-Theorie wurde entwickelt von Richard Schwartz. Es ist ein systemischer Ansatz, der sich mit den Teilen beschäftigt, die Probleme im Leben eines Menschen verursachen. Jeder innere Anteil wird als Mitglied einer internen Familie betrachtet. Dabei werden einige Teile als Manager, andere als Verbannte/Exile und wieder andere als Feuerwehrleute eingestuft.

Einsatzbereiche: Verbesserung des allgemeinen Wohlbefindens, von Angst, Depression, körperlicher Gesundheit und persönlicher Resilienz.

Ego-State-Therapie

In der Ego-State-Therapie wurde in den 70er-Jahren von John und Helen Watkins entwickelt. Sie beschäftigt sie sich mit der Integration voneinander unterscheidbarer, zum Teil abgespaltener Ich-Zustände. Es wird davon ausgegangen, dass wir viele verschiedene Ego-States haben und ein jeder dieser States eigene Persönlichkeitszüge aufweist: eigene Macht- oder Ohnmachtsgefühle, Emotionen, Denkweisen und Fähigkeiten. Immer dann, wenn wir über „Ein Teil von mir“ reden, reden wir über einen Ego-State. Die Ego-State-Therapie arbeitet mithilfe von Techniken wie Regression und Hypnose, um die Funktion und Beziehung der States zueinander zu verstehen.

Einsatzbereiche: Traumatherapie, insbesondere Entwicklungs- und Bindungstrauma

Voice Dialogue

Voice Dialogue basiert auf den Erkenntnissen von Hal und Sidra Stone. Die Methode konzentriert sich darauf, den Dialog mit den verschiedenen inneren Anteilen zu fördern und deren einzigartige Perspektive und Rolle im Leben des Individuums zu verstehen. Hierbei ist es wichtig, den Kontakt zu unseren Selbstanteilen herzustellen, ihnen Gehör zu verschaffen. Es geht darum, das Bewusstsein für die Anteile in uns, die unbewusst unser Leben bestimmen, zu schärfen und die Anteile zu erkennen, die gerne mehr in unser Leben treten möchten. Diese Bewusstheit führt zu mehr Klarheit in Entscheidungen und eine Erweiterung des Verhaltensspektrums in Beziehungen.

Einsatzbereiche: Persönlichkeitsentwicklung, Selbsterfahrung, Nutzung der persönlichen Ressourcen

Inneres Team

Der Begriff inneres Team wurde von Friedemann Schulz von Thun geprägt. Er vergleicht die inneren Stimmen oder Persönlichkeitsanteile mit dem Teambegriff. So wie ein Projekt-Team nur dann erfolgreich zusammenarbeiten kann, wenn es gut miteinander kommuniziert und jedes Teammitglied hinter einem gemeinsamen Ziel steht, so bedarf es auch einer Kommunikation zwischen den verschiedenen Persönlichkeitsanteilen oder inneren Stimmen, die ein Mensch in sich trägt. Diese Anteile stehen stellvertretend für unterschiedliche Bedürfnisse, die wir haben. Diese Methode arbeitet mit den Mitteln der Visualisierung und der Konfliktlösung, wobei die unterschiedlichen Werte, Gefühle, Bedürfnisse oder Ansichten der Anteile berücksichtigt werden.

Einsatzbereiche: Unterstützung bei wichtigen Lebensentscheidungen in Partnerschaft oder Karriere, Impulse finden für neue Gedanken, Ideen und tragfähige Lösungsansätze.

Inneres Kind Arbeit

Das Arbeiten mit dem Modell des inneren Kindes geht auf die Bücher von John Bradshaw, Erika Chopich und Margaret Paul zurück. Auch beim inneren Kind geht es um die Erfahrungen, die wir in unserer Kindheit gemacht haben, die glücklichen und kreativen Momente ebenso wie die verletzenden. Aus all diesen Erfahrungen heraus speisen sich noch heute unsere Reaktionen. Diese kennenzulernen, bewusst zu machen ist und zu akzeptieren, dass sie in dir wirken, ist einer der wesentlichen Punkte der Arbeit mit dem inneren Kind.

Einsatzbereiche: Selbstreflexion, Beziehungs- und Lebensmuster verstehen, Persönlichkeitsentwicklung

Fazit

Einige dieser Methoden und Konzepte eignen sich gut zur Selbstreflexion, andere wie Internal Family Systems (IFS), Ego-State-Therapie, Voice Dialogue würde ich nur in Zusammenarbeit mit ausgebildeten Therapeut:innen oder Coaches empfehlen. Indem du dich und deine inneren Anteile besser verstehen und zu schätzen lernst, kannst du inneren Frieden erreichen und einen ausgewogenen Zustand innerer Harmonie schaffen. Dies ist ein wichtiger Schritt in Richtung Selbstakzeptanz und psychischer Gesundheit.

Du wünschst dir Unterstützung bei der Identifizierung deiner inneren Anteile? Dann buche dir gerne einen Termin für eine Coachingsitzung mit mir. Ich freue mich auf dich!

4 Kommentare

  1. […] mir gibt es auch einen starken Willen zum Leben, der für all meine inneren Anteile, die mich als Gesamtheit ausmachen, gut sorgt. Lange wusste ich nicht, was diesen Willen ausmacht, […]

  2. […] Innere Anteile – du bist nicht verrückt, nur weil du mit dir selbst redest […]

  3. Sylvia Tornau 27. August 2023 um 19:26 Uhr

    Liebe Danielle, Danke für deine Rückmeldung. Genauso war dieser Beitrag gedacht, als Überblick. Freut mich, dass es bei dir so angekommen ist.
    Herzliche Grüße Sylvia

  4. Danielle Berg 27. August 2023 um 10:56 Uhr

    Liebe Sylvia,
    danke für diesen Überblick zu den inneren Anteilen. Ich habe jetzt nochmal ein neues Verständnis zu dem Thema und merke, dass da vieles zusammenfließt. Ich beschäftige mich gerade mit dem inneren Team nach Schultz-von-Thun und erkenne gerade durch deinen Artikel, wie groß der Themenkomplex darüber hinaus noch ist.

    Liebe Grüße
    Danielle

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Hallo, ich bin Sylvia

systemische Therapeutin, Trauma-Coach und Bloggerin. Seit über 20 Jahren arbeite ich mit Paaren, Familien und Einzelpersonen daran, negative Kindheitsprägungen und frühe Traumata zu lösen und ein Leben voller Selbstvertrauen, innerem Frieden und emotionaler Stabilität zu führen.
Für ein erfülltes Leben in Verbundenheit.

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